Wie ein guter Blues

Comic | Julie Maroh: Blau ist eine warme Farbe

›Blau ist eine warme Farbe‹ ist eine fein gewobene, mit autobiographischen Elementen spielende Liebesgeschichte zwischen Coming Out und Coming Of Age: Julie Maroh überzeugt direkt mit ihrem Comic-Debüt. Von CHRISTIAN NEUBERT

Blau ist eine warme FarbeGleich die erste Seite macht es deutlich: Die vorliegende Geschichte wird tragisch enden. »Meine Liebste, wenn du diese Worte liest, werde ich diese Welt verlassen haben.« Es sind die einleitenden Worte eines Abschiedsbriefs, den Clementine ihrer Freundin Emma hinterlassen hat. Emma nimmt ihn, neben dem Tagebuch ihrer verstorbenen Partnerin, von deren sie mit Argwohn betrachtenden Eltern in Empfang.

Clementines Tagebuch rekapituliert, beginnend mit ihrem 15. Lebensjahr, ihr kurzes Leben. Es ist ein letzter Liebesbeweis an Emma – und für den Leser der Beginn einer Story zwischen Coming Of Age und Coming Out. Vor allem aber ist ›Blau ist eine warme Farbe‹ eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte, die mit einer flüchtigen, wortlosen Begegnung beginnt.

1994 besucht Clementine die zehnte Klasse. Sie merkt, dass sie sich in einem gewissen Punkt von ihren Freundinnen unterscheidet: Ihr Interesse an den Jungs ihrer Schule geht weniger weit. Mit den charmanten Annäherungsversuchen von Thomas weiß sie nichts anzufangen, auch wenn sie eine ganze Weile eine platonische Beziehung mit ihm führt. Was sie wirklich will, weiß sie erst, als sich ihr Blick mit dem jener jungen Frau kreuzt, deren blau gefärbtes Haar sie aus der Menschenmasse in der Fußgängerzone herausstechen lässt.

Ein Blaues Wunder

Indem ein Schulfreund sie in die schwule Subkultur von Paris einführt, lernen sich die beiden Damen schließlich kennen: Clem, Schülerin der Oberstufe, und Emma, die Kunststudentin, die seit Jahren eine lesbische Beziehung führt. Das Treffen markiert den zaghaften Beginn einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung. Einer Beziehung, die geprägt ist von allerlei Höhen und Tiefen, die aus der chaotischen Gefühlswelt der pubertierenden Clementine resultieren, aber auch aus dem prüfenden Blick der Gesellschaft inklusive der eigenen Familie. Letzterer markiert dabei den Punkt, in dem sich die beiden Frauen deutlich voneinander unterscheiden: Während Emma für die Gleichstellung und Anerkennung ihrer Liebe kämpft, möchte Clementine den Kampf aus der Liebe verbannen. Sie will Liebe ohne Konflikte, weswegen sie ihre Homosexualität vor anderen nicht offen auslebt.

Dieser Charakterzug der Hauptprotagonistin ist es schließlich, der ›Blau ist eine warme Farbe‹ vorwiegend und zuallererst zu einer Liebesgeschichte macht. Indem er sich auf Werden und Sein der Beziehung konzentriert, liest sich der Band wie die Comic-Umsetzung eines guten Blues-Tracks: ›Blau ist eine warme Farbe‹ besticht durch Tiefe des Herzens und emotionale Ausbrüche. Das mit biographischen Elementen spielende Debütwerk ist fein gewoben, besticht durch eine poetische Sprache und eine graphische Umsetzung, die sich gekonnt in den Dienst der Narration stellt. Während die Gegenwart mit gedeckten Aquarelltönen koloriert ist, schleicht sich in die Rückblenden, die den Hauptteil ausmachen, lediglich die Farbe Blau – auf eine Weise, die erahnen lässt, dass ihre blau gefärbte Liebe das Einzige ist, was Emma mit Gewissheit aus der Vergangenheit bis zu ihrem traurigen Ende überführen konnte.

Preisverdächtiger Eklat

›Blau ist eine warme Farbe‹ wurde auf dem Comicfestival ihrer Heimatstadt Angoulême übrigens direkt mit dem Publikumspreis bedacht. Die Verfilmung des Stoffes konnte gar, als erste Comic-Adaption überhaupt, in Cannes sowohl die Goldene Palme als auch den Preis des Kritikerverbands einheimsen. Das setzte in Frankreich ein deutliches Zeichen innerhalb der hitzigen Debatte um die Gesetzeslage zum Recht auf Heirat für homosexuelle Paare.

Ein Skandal blieb dabei natürlich nicht aus, zumal der Film mit expliziten, quasi in Echtzeit gefilmten Sexszenen aufwartet. Überraschenderweise stellte sich die junge Autorenzeichnerin innerhalb der Kontroverse aufseiten der Kritiker: Der Sex stehe im Film zu sehr im Vordergrund und erscheine dabei wie die heterosexuelle Vorstellung lesbischer Liebe. Der erste sexuelle Kontakt zwischen den beiden Frauen spielt zwar sowohl im Comic als auch in der Verfilmung eine große Rolle. Doch das, was sich bei Maroh auf gerade einmal vier von 156 Seiten abzeichnet, dauert in Abdellatif Kechiches Adaption etwa eine Viertelstunde.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Julie Maroh: Blau ist eine warme Farbe. Aus dem Französischen von Tanja Krämling
Bielefeld: Splitter Verlag 2013
156 Seiten. 19,80 Euro.

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schatten des Schicksals

Nächster Artikel

12 Tickets fürs Wunderland

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Zuviel des Guten

Comic | Glyn Dillon: Das Nao In Brown Glyn Dillon erschafft in ›Das Nao In Brown‹ eine facettenreiche, aufgrund einer Aggressionsstörung recht zwiespältige Protagonistin, der er mit Beiläufigkeit nahekommen will. CHRISTIAN NEUBERT staunt über das Potenzial und die Schönheit des Bandes – hält das aber für den falschen Weg.

Der fremde Blick

Comic | ICSE 2016 Spezial: Interview mit Max-und-Moritz-Preisträgerin Birgit Weyhe Der diesjährige Max und Moritz Preis für das beste deutschsprachige Comicalbum ging an ›Madgermanes‹ von Birgit Weyhe. Darin wird die Geschichte mosambikanischer Gastarbeiter erzählt, die Ende der 70er Jahre von ihrer Regierung als billige Arbeitskräfte in die DDR verschachert wurden. BORIS KUNZ hat sich mit der frischgebackenen Preisträgerin über ihr Werk unterhalten.

Depressive Zitronenkuchen

Comic | Tom Gauld: Kochen mit Kafka Wenn ein Cartoonist es in den ›Guardian‹ und den ›New Yorker‹ schafft, dann ist eigentlich klar, dass er ein zeichnerisch herausstechendes Talent darstellt. Und genau solch ein Ausnahmekünstler ist der schottische Künstler Tom Gauld. Sein Name ist, was selten für Cartoonisten der Fall ist, wohlbekannt. Viele seiner intellektualistischen Cartoons sind schon viral geworden in diesem Internet. Nun ist ein Sammelband mit seinen Strips erschienen. PHILIP J. DINGELDEY hat sich ›Kochen mit Kafka‹ angesehen. Und und bekam dabei mehr als einen Lachanfall.

Ein Buch für alle Bücherfreunde

Comic | Shinsuke Yoshitake: Die Buchhandlung der Wünsche

Shinsuke Yoshitake hat mit ›Die Buchhandlung der Wünsche‹ eine Graphic Novel für »alle, denen Bücher die Welt bedeuten«, vorgelegt, ein Buch für Bücherfreunde, Büchernarren und Bibliophile. Denn er nimmt uns in diesem Comic mit in eine Buchhandlung, in der man alle möglichen Bücher über Bücher kaufen kann. Inhaber der Buchhandlung der Wünsche ist ein sympathischer Buchhändler mittleren Alters mit Halbglatze und Schnurrbart, der seine Kundinnen und Kunden freundlich bedient. Von FLORIAN BIRNMEYER

Merlin meets Superhelden

Comic | Frank Cho: Skybourne, Bd. 1 Als Zeichner von Superheldencomics war Frank Cho bislang bekannt für seine sexualisierten bis sexistischen Darstellungen – vor allem des weiblichen Körpers. Mit seinem neuen Werk ›Skybourne‹ jedoch karikiert er nicht nur solche Formen der Darstellungen, sondern vermischt auch eine actiongeladene Superheldenstory mit düsteren mittelalterlichen Legenden. PHILIP J. DINGELDEY hat sich den ersten Band einer neuen Saga angesehen.