Ein haariges Vergnügen

Comic | Stephen Collins: Der gigantische Bart, der böse war

Ein Bart als Ursache einer Katastrophe: Stephen Colllins findet in seinem philosophisch-märchenhaften Comic ›Der gigantische Bart, der Böse war‹ viel Humor zwischen den Trümmern, die kein geringeres Monster als wild wuchernde Gesichtsbehaarung hinterlässt. Von CHRISTIAN NEUBERT

Der gigantische BartHier ist der Nabel der Welt – ein zentrales Eiland inmitten der See, die es von Dort trennt. Das ist gut so. Schließlich herrscht Dort, ganz im Gegensatz zu hier, wo alles in Ordnung ist, ungeordnetes Chaos. Zumindest heißt es das, und jeder von Hier ist sich darüber einig – auch, wenn noch keiner wirklich Dort war.

Hier nimmt alles seinen ihm zugewiesenen Gang. Alles bewegt sich in festen, festgelegten Bahnen. Abweichungen gibt es keine, das Dasein sieht für alles einen Platz und eine Zeit vor. So eben auch für David. Tagsüber ist sein Platz ein Bürostuhl. Nachdem er die eingegangenen E-Mails gecheckt hat, hält er eine immer gleiche Präsentation über das gleichmäßig anhaltende Wachstum. Wenn er Feierabend hat, ist sein Platz ein Stuhl vor seinem Fenster. Er sitzt dann dort und malt, was er sieht. Dass er immer das Gleiche sieht, stört ihn nicht. Im Gegenteil: Beständigkeit verschafft ihm Sicherheit. Sie hilft ihm und all den anderen Menschen Hier, die Gedanken an Dort zu verdrängen.

Hier, wo nichts dem Zufall überlassen wird und alles einen Grund hat, geschieht jedoch eines Tages das Unfassbare: etwas Grundloses. Es bahnt sich über Davids eingehende E-Mails an: Sie zeigen ungeordnete Zahlen und Grafiken, die man unmöglich als beständiges Wachstum deuten kann. Klar fällt es ihm da schwer, seine Präsentation zu halten – es ist zum Haare raufen. Dies wird David, der eine Glatze hat und dem in seiner glatten Gesichtshaut nur ein einzelnes Haar sprießt, dann auch möglich: Sein einziges Haar wächst zum Bart – in Windeseile und scheinbar ohne Ende.

Da es Hier so etwas wie einen auch nur herkömmlichen Rauschebart noch nie gegeben hat, lenkt dies natürlich die Aufmerksamkeit auf David: Alle heben den Blick von ihren gleichen Smartphones, um zu erhaschen, was da gerade Unbekanntes, Unerhörtes und Unberechenbares geschieht. Die Schaulustigen drängen sich, gleichermaßen fasziniert wie angewidert, um dem haarigen Ausmaß, das sich Hier auftut, gewahr zu werden. Dabei merkt niemand von den Spektakelsuchenden, dass keiner auf die Idee kommt, eine anständige Schlange zu bilden… und der Bart wächst und wächst. Nichts und niemand scheint ihm Einhalt gebieten zu können. Er zerstört die herrschende Ordnung, da er sich unaufhaltsam und eine Spur der Verwüstung hinterlassend seinen Weg durch die Reihenhäuser und Parkanlagen bahnt.

›Der gigantische Bart, der böse war‹ ist ein Stück weit Märchen, ein Stück weit Parabel, ein Stück weit Utopie und auch ein Stück weit Katastrophenfilm in Comicform. Auch Kafka könnte man als Referenz hinzuziehen. Vor allem aber ist er ein herrlich spinnerter, fantasievoller Band, der leichtfüßig und spaßig von der Angst vor Veränderung erzählt und neben seinen wenigen, wohl gewählten Worten durch eine ausgeklügelte Bildsprache in meisterhaft komponierten Seitenlayouts besticht. An dem, was Stephen Collins hier mit satirischer Schelmenhaftigkeit und exakten Bleistiftstrichen vorführt, kann man gar nicht anders, als einen Narren fressen. Toll!

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Stephen Collins: Der gigantische Bart, der böse war
Zürich: Atrium Verlag 2014
240 Seiten, 29,99 Euro

Reinschauen
Homepage des Künstlers

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Splitter Kino

Nächster Artikel

Gehen, um sich selbst zu finden

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Comics für lau

Comic | Gratis-Comic-Tag 2014 Der 10. Mai wird bunt: Der Gratis-Comic-Tag ist ein Feiertag im Zeichen der schönen Sprechblasengeschichten.

Von Menschen und Affen

Comic | W .Lupano, J. Moreau: Der Affe von Hartlepool / P. Bonifay, F. Meddour: John Arthur Livingstone – Herr der Affen Titelbilder mit Affen darauf haben in den 60er Jahren beim Comicverlag DC immer wieder für gut verkaufte Comichefte gesorgt. Auch heute sind unsere nächsten Verwandten im Tierreich als Sujet für Comicstories längst nicht passé: BORIS KUNZ hat sich mit dem ›Affen von Hartlepool‹ (avant) und dem ›Herrn der Affen‹ (Splitter) auseinandergesetzt.

Ein Buch für alle Bücherfreunde

Comic | Shinsuke Yoshitake: Die Buchhandlung der Wünsche

Shinsuke Yoshitake hat mit ›Die Buchhandlung der Wünsche‹ eine Graphic Novel für »alle, denen Bücher die Welt bedeuten«, vorgelegt, ein Buch für Bücherfreunde, Büchernarren und Bibliophile. Denn er nimmt uns in diesem Comic mit in eine Buchhandlung, in der man alle möglichen Bücher über Bücher kaufen kann. Inhaber der Buchhandlung der Wünsche ist ein sympathischer Buchhändler mittleren Alters mit Halbglatze und Schnurrbart, der seine Kundinnen und Kunden freundlich bedient. Von FLORIAN BIRNMEYER

Das Ende in der Altpapiertonne

Comic | ICSE 2016 Spezial: Podiumsdiskussion zum Thema Comic-Sammlungen Das letzte Hemd hat keine Taschen, weiß ein altes Sprichwort. Irgendwann muss jeder Mensch allen aufgehäuften Besitz loslassen. Was aber, wenn der Besitz ein gewaltiger, vermeintlich wertvoller Berg Comics ist? Wer nimmt die dem Sammler ab und in gute Pflege? Es ist ungewiss, ob er seine Schätze zumindest noch zu Geld machen kann, da nur wenige Comicfans nachrücken. Am Ende eines mühevollen Sammlerlebens steht möglicherweise die Altpapiertonne. Das wäre nicht nur ein individueller, sondern auch ein gesellschaftlicher Verlust, sofern man Comics für ein Kulturgut hält, dessen Erscheinungen und Entwicklungen man vielleicht

Kleiner Mann – was nun?

Comic | Hubert / Gatignol: Petit Mit ›Petit‹ entwirft Comicautor Hubert ein grimmiges Antimärchen zwischen ›Hans und die Bohnenranke‹ und ›Der Kleine Däumling‹. Zeichner Bertrand Gatignol findet für den Band schaurig-schöne Bilder, Rezensent CHRISTIAN NEUBERT lobende Worte. Grund für verhaltenen Tadel allerdings auch.