/

Kommunikative Basis Fehlanzeige

Film | Japan-Filmfest Hamburg: ›Tokyo/Lovers‹, Japan (2013)

›Tokyo/Lovers‹ ist ein Film, der überwiegend mit sehr ruhigen Szenen arbeitet, die Szenen aber gern unvermittelt nacheinander setzt; dieser Kontrast verleiht dem Film einen angenehm individuellen Effekt. Zeitliche Ebenen werden gelegentlich gegeneinander verschoben. Wir sehen eine zart eröffnende Brettspielszene zwischen einer Englischlehrerin und einem noch leicht an der Schulter verletzten Berufstänzer. Von WOLF SENFF

Tokyo/Lovers›Tokyo/Lovers‹ ist zurückhaltend, unaufdringlich, schwarzweiß gehalten. Man wundert sich, welche atmosphärische Dichte auf diese Weise erzeugt wird. Es bildet sich eine intensive, gänzlich andere Spannung als die, die wir aus Actionfilmen kennen, sie greift nicht nach uns, sie nimmt uns nicht den Atem, sie löst keine Beklemmungen aus.

Die Kamera beobachtet

Statt linear spannungsbildender Handlung zeigt uns Kotaro Ikawa eine überzeugende szenische Montage. Gern auch Gesichter, vielseitige Gesichter, arglose Gesichter, zögernde und glückliche Gesichter. Der Mann macht im Bett Yoga-Übungen, sein »Reha-Training« (die Schulter wird durch Akupunktur behandelt), die Frau bastelt Papierflieger. Nicht unbedingt das, was wir uns als eine typische Beschäftigung von Verliebten vorstellen. ›Tokyo/Lovers‹ zeigt sich in dieser Szene jedenfalls erstaunlich entspannt, locker, zwanglos. Nein, der westliche Film würde das anders darstellen. Verliebte gehen auf Party. Oder zum Hafengeburtstag. Pack die Badehose ein. Das wäre ein anderer Film, eben eine andere Kultur.

In stillen Bildfolgen beobachtet die Kamera aus ruhiger Distanz. So als würde kein Film gedreht, keinem Drehbuch gefolgt – die Dreharbeiten liefen über ein halbes Jahr verteilt, mit kleinem Team und ohne vorgefertigte Dialoge –, sondern als handle es sich lediglich um eine Kamera, die beinahe zufällig und absichtslos den Alltag nachzeichnet, wir folgen einem Spaziergang, wortlos, in den lautstarke Übungsszenen einer Band aus einem Kellerraum eingerückt werden.

»Stop reopening nuclear power plants! Return Fukushima!« Straßenszenen, Autoverkehr, Pizza-Restaurant, entspannter geräuschvoller Alltag, und mehrfach werden die Aufnahmen von Demonstrationen eingespielt: »Stop nuclear power plants! Protect children!«

Eine Sequenz in Farbe

Unversehens tritt neues Personal auf, man sortiert sich die Zusammenhänge, so soll es vermutlich sein. Einer kurzen Szene entnehmen wir, dass die Sprachlehrerin sich in einen nächtlichen Seitensprung verwickelt. Nein, kein Drama, kein Alarm. Gefühle und persönliche Betroffenheit sind äußerst reduziert.

Wir beobachten den Mann mehrere Minuten lang bei seinen Yoga-Figuren im Komezawa-Park, man darf das als eine Identifikation mit der eigenen Identität interpretieren, und wir sehen nun wieder das vertraute Liebespaar, mehrfach fragt er die Frau, ob sie hungrig sei und ob sie, indes sie längst ein Teegefäß in der Hand hält, etwas trinken möchte, er ist sichtlich nervös. Verliebt? Wir erleben anschließend die einzige farbige Bildfolge des Films und sehen ein entspanntes, glückliches Gesicht.

Die Gemeinsamkeit ging verloren

In der lange ausgezogenen letzten Szene, die Bilder wieder schwarzweiß, sitzen beide an einer Bar im Keller, in dem die bereits erwähnte Band auftritt, es ist erneut eine sehr zarte Szene, ein fragmentarischer Dialog, in dem sich ein Annäherungsprozess anbahnt, der dann aber scheitert. Handelt es sich um zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten? Der Mann ist zögerlich, und zweifellos spielt ein kultureller Unterschied hinein, der verhindert, dass sie sich auf diesen nach unseren, den westlichen Begriffen »schüchternen« Partner einlässt.

Wir würden von einer »melancholischen« Grundstimmung des Films sprechen. Er handelt von der Schwierigkeit, wenn nicht der Unmöglichkeit für Mann und Frau, ihr Leben gemeinsam zu führen, da eine gemeinsame kommunikative Basis fehlt. Diese Basis geht – mit den Demonstrationsszenen erweitert ›Tokyo/Lovers‹ das Blickfeld – parallel dazu auch auf gesellschaftlicher Ebene verloren, sie ist gestört durch eine desaströse Technologie, die in der Havarie von Fukushima ihre katastrophalen Folgen, »Nebenwirkungen« offenbart. Die Demonstranten fordern deshalb ganz konsequent eine neue, grundlegend andere Gesellschaft.

›Tokyo/Lovers‹ ist ein verhaltener Film, der nicht mit aggressiver Spannung arbeitet, dessen Personal uns nicht zu Identifikation oder Ablehnung nötigt, sondern der uns zwanglos und offen entgegentritt. Man darf sich auf den Charme dieses Films einlassen.

| WOLF SENFF

Titelangaben
›Tokyo/Lovers‹, Japan 2013
Regie: Kotaro Ikawa
Darsteller: Tomoko Hayakawa, Takuya Ikenu
OmeU, 87 Minuten
Freitag, 30. Mai, 20:00 Uhr, Studio-Kino Hamburg

Reinschauen
| Japan-Filmfest Hamburg
| Alle Beiträge zum Japan-Filmfest auf TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»Tardi fühlt sich hier sehr wohl«

Nächster Artikel

Müllverbrennung im Abendschein

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Einer so, der andere so

Film | Im Kino: Jane got a gun / The Hateful 8 Auferstehung? Nein, nicht wirklich. Es kommt nun einmal vor, dass müde, blasse, stumpfe Schatten, die irgendwo scheinbar nutzlos herumliegen, unversehens mit neuem Leben erfüllt werden, und der Wildwestfilm trabt plötzlich wieder quicklebendig über die Leinwand, diesmal in zwei grundverschiedenen Ausführungen, die dieser Tage in die deutschen Kinos gelangen. Von WOLF SENFF

Faster, Ghetto-Kid! Kill, kill!

Film | Im Kino: Attack the Block »Würde der Dritte Weltkrieg dort draußen toben, würde man keinen Unterschied merken.« Tatsächlich hat der Dritte Weltkrieg in der heruntergekommenen Hochhaussiedlung, die das labyrinthische Herz von Attack the Block ist, schon begonnen. Ein Zweifrontenkrieg zwischen engagierter Bürgerklasse und krimineller Ghetto-Jugend, zwischen Erdbevölkerung und Aliens: Menschen gegen »beschissene Monster«. So nennt Sam (Jodie Whittaker) die Gang um den jugendlichen Moses (John Boyega), von der die Krankenschwester auf dem Heimweg von der Überschicht ausgeraubt wird. Was die irdischen und außerirdischen Invasoren der innerstädtischen Arena verdienen, ist das Dogma von Joe Cornishs aggressiver Mischung aus Kampfspektakel

»Wer ins Wespennest sticht, wird gestochen«

Film | Im TV: TATORT 902 Abgründe (ORF), 2. März Die beiden dürfen das. »Wir arbeiten in einem unfassbaren Saustall.« Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) klären auf. Abgründe bildet Strukturen eines von Betrug, Lügen und Fälschungen durchsetzten Polizeiapparats ab, von Schmiergeldzahlungen und Verflechtungen mit lokalen Wohnungsbauunternehmen, der Film Noir erlebt seit einiger Zeit sein zaghaftes Revival im TATORT. Von WOLF SENFF

Der Kaiser der Revolution

Film | Abel Gance: Napoleon/Austerlitz. Glanz einer Kaiserkrone Die Geschichte des Films ist, technisch betrachtet, die Geschichte einer permanenten Annäherung an die Wirklichkeitsillusion. Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts aus einer Kombination dreier Erfindungen – der Fotografie, des bewegten Bildes durch eine rasche Abfolge von Phasen und der Projektion, der „Laterna magica“ – der Stummfilm geboren war, suchte man sogleich nach Möglichkeiten, den Ton, die Farbe und den Raum hinzuzufügen. Von THOMAS ROTHSCHILD

Mutti! Entführt!

Film | TV: TATORT – Fette Hoppe (MDR), 26.12. Man sitzt davor und überlegt noch, ob man lachen soll. Trockene Dialoge. Das um einen Bruchteil hinausgeschobene Zögern, bevor geredet wird. Schräge Figuren. »Die Frau strahlt so eine unbestimmte Zugänglichkeit aus – was sicher manchen Mann moralisch erneuern könnte«. Hans Bangen (Wolfgang Bauer) sieht aus wie ein Hans im Glück, der ein Schwein gegen den Erfolg im Casting getauscht hat. Bogdanskis Ohren sind nicht lustig, aber gut sichtbar und originell. Von WOLF SENFF