/

Aufs Glatteis geführt

TITEL-Thema | Brasilien 2014

Berechtigte Frage: ob man das mit nem normalen Kopf noch verarbeitet. Ist ein bisschen viel auf einmal, oder? Die Bewohner der Favelas, die verzweifelt darauf hoffen, die unteren Ränder der Mittelklasse zu erreichen, der Staat, der, anstatt in Infrastruktur zu investieren, sich abzocken lässt und Milliarden für gigantische Stadien verpulvert – Manaus, wo England gegen Italien spielen soll, liegt am schönen Amazonasfluss tief im tropischen Regenwald –, und eine kriminelle FIFA, die sich mit drei Milliarden im Säckel davonschleichen wird. Von WOLF SENFF

Der Mensch der westlichen Moderne, so würde der Irrenarzt formulieren, leide unter fundamentaler Begriffsverwirrung. Ja, seit einiger Zeit. Die Veranstaltung in Brasilien sei zuallererst ein globaler Sklavenmarkt, auf dem sich jeder dieser balltretenden Sklaven ins rechte Licht setzen wolle in der Hoffnung, von einem der reichen Vereine erworben zu werden, auf dass er möglichst in Zukunft seine Familie in Ghana oder der Elfenbeinküste von dem Gehalt ernähren könne, das ihm in Europa ausgezahlt werde.

Weiße Elefanten

Irre, oder? Eine Parallelwelt. Nun regt euch mal nicht künstlich auf, höhnen die alten Männer, auch in anderen Bereichen gibt’s Sklaverei, bei Kindern, bei Frauen. Die Zeiten ändern sich oder sie ändern sich nicht.

Stimmt, sagt der Irrenarzt, das sei bei Weitem nicht alles. Die Stadien seien weiße Elefanten wie schon BER, wie schon Elbphilharmonie. Nein, derartige Projekte funktionieren nicht, sind weiße Elefanten, und falls sie je in Betrieb gehen, werden sie neue Gelder abziehen, sie plündern die staatlichen Haushalte, und in der Politik – Sind die Herrschaften allesamt bestochen? Sind sie schlicht zu blöd? Sind sie beides? – will’s niemand merken und sind sie zu feige, auf die Bremse zu treten.

Kindesmissbrauch

Vernunft? Der Irrenarzt schmunzelt. Na ja, korrigiert er sich, die Spiele funktionieren eben als Veranstaltungen, mit deren Hilfe den staatlichen Haushalten Gelder abgezockt werden. Ist halt die Logik der Irrenanstalten. Moral? Fehlanzeige. Aufrichtigkeit? Jederzeit, gerne doch, wir sind alle ein bisschen Mensch – es sei denn, es geht um Geld.

Ist halt ein irres Spektakel, sagt er. Zweiundzwanzig unschuldige Knaben werden von den Hauptakteuren an der Hand aufs Feld geführt, unsere adoleszenten Helden dürfen das, unsere Milchgesichter mit Millionärsgehältern, und sobald sie auf dem Rasen sind, handelt es sich eh um zweiundzwanzig Götter, präsentiert von: »Holsten knallt am dollsten.« War das jetzt eigentlich Kindesmissbrauch? Der Irrenarzt schmunzelt: Mit Rausch hat das eine Menge zu tun und viel mit Realitätsverlust.

Nicht kleinzukriegen, nein

Eigentlich sei alles auf Realitätsverlust gedreht, halt Irrenanstalt. Produktwerbung bis zur Besinnungslosigkeit. Patriotismusekstasen. Akute Lähmung der zu allen anderen Tageszeiten beweglichen Hirnströme. Grölende Reporterstimmen. Schwarzrotgoldaccessoires vom Kopf bis zur Anhängerkupplung, halt Irrenanstalt. FIFA? Nie gehört. Korruption? Bei internationalen Geschäftsabschlüssen. Wettbetrug? Schon gut, bei Pferderennen. Doping? Ach, Tour de France, stimmt.

Nein, nicht alle Spiele, auf keinen Fall, sagt der Irrenarzt, eigentlich ein sympathischer Kerl, nur das eine oder andere werde er sehen. Hab ich richtig gehört? Letztlich, fügt er erklärend hinzu, sei der Charakter des Spielerischen von all dem abstoßenden Getue und Gebrezel nicht kleinzukriegen, und ganz selten gebe es sogar einmal einen Spieler, den man ernst nehme.

Pirlos genialer Panenka-Heber

Sehen Sie nur, sagt er, diesen Andrea Pirlo, er ist eine Ausnahmeerscheinung, ihr Deutschen, sagt er, hattet mal den Günther Netzer, das ist lange her. Das sind so intellektuelle Spielertypen, die Sahnehäubchen jedes Spiels, von unnachahmlicher Eleganz, sie sind unentbehrlich, ihr Deutschen habt leider nachgelassen seitdem.

Italien gegen England, das nachts um zwölf in Manaus angepfiffen werde, tief im tropischen Regenwald, das werde er sich auf keinen Fall entgehen lassen – sofern es überhaupt stattfinde, denn all die Proteste seien berechtigt, Paaahdie war gestern. Dann am liebsten bitte noch einmal mit einem Elfmeterschießen wie neulich bei der Europameisterschaft, als Andrea Pirlo mit seinem genialen Panenka-Heber dem jungen englischen Hart zeigte, wo Bartel den Most holt.

| WOLF SENFF

Reinschauen
Brasilien 2014 auf TITEL

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Im Sog der Angst

Nächster Artikel

Die Kannibalen, das sind wir

Weitere Artikel der Kategorie »Brasilien 2014«

Welcome To The Jungle

Kolumne | Das aktuelle Gefälle #3   ›Das aktuelle Gefälle‹ ist CHRISTIAN NEUBERTs satirisches Format, in der er sich zeitgenössischer Schieflagen annimmt. Diesmal gibt es empörend Schräges zum Dschungelcamp der anderen Art.

Die Freude am Spiel wird geklaut

Gesellschaft | Dilger / Fatheuer / Russau / Thimmel: Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie Südafrika 2010 sind »die Einnahmen der Fifa gegenüber der letzten WM in Deutschland im Jahr 2006 um mindestens fünfzig Prozent gestiegen«. Da wussten sie doch, die Brasilianer, was sie erwarten würde. Oder? Aber Lula, bis 2010 Präsident Brasiliens, war offenbar närrisch, wenn es um Fußball ging. Von WOLF SENFF

Der jugendliche Camus

Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft.

Die brasilianische Eröffnung

Gesellschaft | Mirian Goldenberg: Untreu Gender-Forschung ohne Konfrontationskurs? Starker Tobak. Mirian Goldenberg versteht sich als Anthropologin, sie führt umfangreiche Forschungsvorhaben durch und beschäftigt sich in ihren zahlreichen Publikationen durchgängig mit dem Verhalten brasilianischer Mittelschichten, was Liebe, Begehren, Ehe, Familie und Treue betrifft. Legen wir das ungelesen beiseite ins Regal für Spießbürger? Mal halblang, meint WOLF SENFF.

Fußballfieber

Kinderbuch | Eymard Toledo: Benè, schneller als das schnellste Huhn / Fabrizio Silei: Abseits In Brasilien erfolgt der Anpfiff. Nachhaltig Fußball anschauen kann man – auch ohne die Abseitsregel zu verstehen – mit zwei Bilderbüchern zum Thema. ANDREA WANNER hat das runde Leder und die beiden Geschichten darum verfolgt.