Gesellschaft | Ulrike Heider: Vögeln ist schön
»Sexualität ist gefährlich und schmutzig. Sexualität ist gut und sorgt für Frieden. Sexualität ist weiblich. Sexualität ist Identität. Sexualität ist Macht und kommt vom Verbot. Sexualität ist Verhandlungssache.« Das ist der Sex der letzten fünfzig Jahre. Vieles wurde verworfen, einiges wiederholt. Fasziniert von der Gegensätzlichkeit der Beschreibungen begibt sich Ulrike Heider in ›Vögeln ist schön‹ auf die Suche nach dem Sexualbegriff ihrer eigenen Lebenszeit. Während der Betrachtung der wichtigsten sexualpolitischen Ereignisse und der Analyse philosophischer Klassiker, zeitgenössischer Literatur und Filme, kommt sie nicht umhin ihre ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Mit der Würze ihrer intimen Konfessionen und oft scharfer Kritik schickt sie uns auf eine ideologische Zeitreise von den späten 50er Jahren bis heute. Von EVA HENTER-BESTING
»Du wirst noch ein schönes Flittchen werden«, es ist 1967 als Heider das von ihrer Mutter zu hören bekommt. Sie hat kurz zuvor mit ihrem Freund geschlafen, mit 20 Jahren, unverheiratet, unvorstellbar. Mit der zornigen Äußerung beginnt die Autorin den Parcours durch die vergangenen Jahrzehnte. Sex – das ist damals kein Thema für anständige Bürger und sittliche Eheleute. Darüber zu reden ist beschämend, darüber zu schweigen die einzige Alternative. Kinder und Jugendliche gilt es von der Wahrheit fernzuhalten – die Unschuld der Kinder und insbesondere die Jungfräulichkeit der Mädchen muss bewahrt werden. Das Vollziehen des Geschlechtsakts außerhalb der Ehe ist ein Skandal, mit Prostitution gleichzusetzen. Stetig wächst die Angst vor moralischer Verwahrlosung. Zwischen Nutte und braver Ehefrau bleibt nicht viel Spielraum für junge Frauen wie Heider. Selbst im Zwiespalt mit den gängigen Moralvorstellungen und der eigenen Verklemmtheit wird sie zum Paradebeispiel ihrer Generation. Die Situation der Zeit wird in Gisela Elsners Roman »Das Berührungsverbot« als sexualkritische und von der NS-Ära geprägte Atmosphäre beschrieben – passend, wie Heider nachträglich empfindet. An sexuellen Genuss im Sinne unbefangener Lebensfreude ist keinen Moment zu denken.
Sex ist Frieden
Erst als die Zeit Adenauers ablief und die Mächtigen ihren Einfluss verloren, bewegt sich etwas im Land. Stimmen für die Aufklärung und die Enttabuisierung der Sexualität werden laut. Die junge Generation erhebt sich, stellt sich dem »Muff von tausend Jahren« entgegen, lanciert die Freie Liebe, will Ehe und Familie abschaffen. Gleichzeitig schreibt Oswalt Kolle sein erstes Buch für Eheleute und ebnet damit den Weg für die sexuelle Revolution. Es folgen widerspenstige, antiautoritäre Schüler und Studenten, die Kolles reformerische Befreiungsbemühungen aufgreifen, Sexualkundeunterricht in der Schule und die Antibabypille fordern. Doch die Revolten, die Sittenskandale an Gymnasien und die Entstehung von Kommune I und II sollten nicht nur jugendlicher Trotz sein, vielmehr waren sie Vorboten etwas Größeren, einer sozialen Revolution. Aus der Opposition gegen Krieg, Imperialismus und sozialer Ungerechtigkeit entspringt das Bild eines guten Menschen – und einer ebensolchen Sexualität. Alsbald wird sie von den Rebellen romantisiert. Sex, solange ungezwungen und frei, ist etwas grundsätzlich Positives, das dazu prädestiniert ist Frieden, Harmonie und Gleichheit zu schaffen. »Ein überwältigender Hedonismus prägte die Einstellung zur Sexualität, bei Männern nicht minder als bei Frauen«, fasst Heider das Kapitel ihrer Jugend zusammen.
Sex ist Macht
Sex sells – das ist nichts Neues. Den größten Nutzen aus der Sexrevolte haben diejenigen, die daraus Geld machen. Zu den Sexualreformen und Sexualrevolutionären gesellt sich eine dritte Befreiungsfraktion: eine Front aus Journalisten, Werbefotografen und Filmproduzenten. Teilentblößte Popos, Beine und Brüste, dilettantische Sexfilmchen und banale Artikel lassen das Geld in den Kassen klingeln. Doch während einige Frauen blankziehen, ziehen andere Bilanz: bis hierhin und nicht weiter. Mitte der 70er Jahre begehrt die Neue Frauenbewegung gegen die sexistische Korrumpierung auf und teilt das nunmehr idealisierte Bild der Sexualität in einen männlichen und weiblichen Part. Der Beginn eines Geschlechterkampfs. Der sanften, zärtlichen und friedlichen Frauenlust steht die böse, destruktive und kriegerische Männersexualität mit der Waffe Penis als patriarchalisches Herrschaftsinstrument entgegen. Im Zuge dessen agitiert die Schwulenbewegung für ein androgynes Männerbild, Feministinnen negieren den »Schwanzfick« und feministische Männer versuchen darauf zu verzichten. Lustgewinn weicht Identität.
Sex ist gefährlich
Als Helmut Kohl schließlich die »geistig moralische Wende« ausrief, ist es mit der Illusion von »Make Love Not War« endgültig vorbei. Aus Hedonisten werden Libertins. »Im Namen der Sinnlichkeit rehabilitierten sie Pornographie und Bordellerotik, bezichtigten die Frauenbewegung der Prüderie und feierten die Femme fatale.« Nichts ist erotischer als abgründige Liebschaften und lüsterner Passion, nichts disparater als Zärtlichkeit und Altruismus. Der Geschlechterkampf bekommt eine neue Wendung und übertrifft den des gravierenden Feminismus‘. Angeregt wird die neue Avantgarde von Autoren wie Michael Foucault und Georges Bataille, dessen Vorstellung die wohl bedrückendste Passage in ›Vögeln ist schön‹ ausmacht. Sein Eros ist obszön, gefährlich und schmutzig, eine Mischung aus Tod und Verderben. Nachdem Aids ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt wurde, erübrigte sich der Rest. Sex war schlecht.
Das pessimistische Bild von Sexualität ist zum heutigen Mainstream verkommen. Macht, Ohnmacht und Schmerz gehören zur Lust wie Krieg zum Frieden. Bestätigung findet Heider in Filmen wie ›Basic Instict‹ oder anhand von BDSM-Kitschromanen á la ›Fifty Shades of Grey‹. Die darin inszenierte Auffassung von Sexualität, die Genuss nur zum Preis von Schmerz und Stress zulässt, entspricht dem Druck, unter dem die Menschen in krisengeschüttelten Spätkapitalismus leiden. »Geworben wird für eine Sexualität, die schmerzhaft und anstrengend ist, so hart wie das Leben, so konkurrent und gnadenlos, wie man sein muss, um nicht unterzugehen.« Weder Liberale noch Progressive, weder Gender- noch Queerbewegte jeglicher Couleur zweifeln daran – und so macht sich der traditionelle Sexualkonservatismus ungehindert auf den Vormarsch.
Sex ist heute
›Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt‹ – nicht viel, wenn es nach Ulrike Heider geht. »Die Sexuelle Revolution hat ebenso wenig stattgefunden, wie die gleichzeitig erhoffte soziale Revolution“, lautet ihr ernüchterndes Fazit. Ihre fundiert wissenschaftliche Dokumentation über die Jahrzehnte verpackt sie in eine »Chronique scandaleuse«, die sich dadurch lehrreich wie amüsant lesen lässt, nicht zuletzt dank der engen Verstrickung ihrer eigenen Lebens- und Liebesgeschichte. Heiders offene, teils provokante, teils saloppe – aber immerzu informative – Art des Schreibens bringt zum intensiven Nachdenken. Dabei schwingt stets eine Prise Wehmut mit: ist Vögeln wirklich so unschön geworden? Ja, sagt Heider und belegt ihre These anhand der Verkaufszahlen von Büchern wie ›Shades of Grey‹. 70 Millionen Mal weltweit verkauft, 70 Millionen Mal siegt Sadismus gegen Blümchensex. Obwohl ihr Resümee nicht positiv ausfällt, vermeidet sie den Affront gegen die 68er, ebenso wie die nachträgliche Glorifizierung. ›Vögeln ist schön‹ – oder eben nicht. Ein Buch zum Reflektieren.
Titelangaben
Ulrike Heider: Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt
Berlin: Rotbuch 2014
288 Seiten. 14,95 Euro
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