/

Russische statt ukrainische Kampfdelfine

Gesellschaft | Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch

»Was gerade auf dem Majdan passiert, ist unklar«, so schließt der Tagebucheintrag vom 9. Dezember 2013. – Der ukrainische Autor Andrej Kurkow, geboren 1961, wurde international durch seine humorvollen Romane bekannt, in denen er den absurden, turbokapitalistischen Alltag der seit 1991 unabhängigen Ukraine beschreibt. Die bekanntesten sind ›Picknick auf dem Eis‹, ›Der Milchmann in der Nacht‹ oder ›Die letzte Liebe des Präsidenten‹, ein Buch das seit neustem auf Russlands Zensurliste steht. Nun ist ein Auszug aus Kurkows Tagebuch, das er während der aufwühlenden letzten Monate geführt hat, auf Deutsch erschienen. Darin verfolgt, kommentiert, analysiert Kurkow als Chronist die Ereignisse aus dem eigenen Alltag heraus. Obwohl ausländische Freunde seiner Familie Asyl angeboten haben, dachte er nicht daran, Kiew zu verlassen: »Vielen Dank. Aber hier ist es spannender.« Von JUTTA LINDEKUGEL

Andrej Kurkow: Ukrainisches TagebuchKurkow wohnt mitten in Kiew, wenige Minuten vom Majdan, dem Zentrum des politischen Geschehens, entfernt. Sein Tagebuch beginnt mit dem Aussetzen des Assoziierungsabkommens mit der EU und den ersten Protesten am 21. November 2013 und zeichnet die geschichtsträchtigen Proteste von Majdan und Antimajdan, die politischen Verhandlungen zwischen Janukowytsch, der Opposition und internationalen Gesandten, die russische Okkupation der Krim und den Beginn der Unruhen in der Ostukraine nach. Dabei verlieren die großen politischen Ereignisse manchmal an Kontur, denn im Hier und Jetzt des Tagebuchschreibers treten nicht alle Schlagzeilen unmittelbar als solche in Erscheinung, dafür – und das ist ein besonderer Verdienst des Buchs – wird offenbar wie sich das historische Geschehen in den Alltag einschleicht.

So erfahren wir zahlreiche, wenig bekannte Details. Zum Beispiel, dass »Sets für Kundgebungsteilnehmer« inklusive einem Merkblatt zu Gesetzen und Paragraphen für den Fall eines Konflikts mit der Miliz verkauft wurden, dass in vielen Säcken für die Barrikaden Eis war, das zeitweise zu schmelzen drohte, oder, dass die russische Soldaten durch eine Medaille »Für die Wiedergewinnung der Krim« geehrt wurden mit den eingeprägten Daten 20.02.2014 – 18.03.2014. »Das heißt,« so Kurkow, »die Operation zur Eroberung der Krim hatte Russland bereits begonnen, als Janukowytsch noch in Kiew war und gar nicht daran dachte zu fliehen.«

Kinder in die Schule gebracht, zur Revolution gegangen

Kurkow vermittelt die Stimmung im Land und lässt uns teilhaben ›am normalen Leben im Ausnahmezustand‹: Während sich alle Gespräche nur noch um die aktuelle politische Situation drehen, sogar die Kinder über die besetzte Krim diskutieren, Kurkow fast täglich mehrmals über den Majdan spaziert, mit Aktivisten spricht, pausenlos im Internet nach den neusten Nachrichten fahndet, müssen Schulangelegenheiten seiner Kinder besprochen, Kindergeburtstage mit Paintball- und Karaoke-Einlagen organisiert, Lesungen in und außerhalb Kiews gehalten oder der Garten auf der Datsche bepflanzt werden. Kurkow notiert, wie Anarchie und Kriminalität in seiner Umgebung zunehmen und die Unsicherheit wächst.

Aber das Leben geht weiter, der Majdan ist zum Alltag geworden: »Ich habe die Kinder in die Schule gebracht und bin zur Revolution gegangen.« Erst später überschlagen sich die Ereignisse, so beginnt der Eintrag vom 22. Januar: »Auf der Hruschewskyj-Straße gibt es die ersten Toten. Warum bin ich nicht überrascht? Warum kommt einem das, was früher unmöglich oder wahnsinnig erschienen wäre, auf einmal logisch und normal vor?«

Bittere Ironie

Während Politiker und Medien Desinformationen und Gerüchte verbreiten und widerrufen, sind Kurkows Positionen eindeutig: Er sympathisiert mit den Protestierenden und setzt sich für die Einheit der Ukraine ein, die er vor allem durch Putin bedroht sieht, aber er ist auch stets um Ausgewogenheit bemüht. Hellsichtig beschreibt er beispielsweise schon im Frühjahr die Auswüchse auf Seiten der Revolutionäre, die von der Revolution nicht Abschied nehmen wollen, ein Thema, das von den Medien erst jetzt immer mehr aufgegriffen wird. So subjektiv dieses Tagebuch berechtigterweise daherkommt, so nüchtern widersteht Kurkow jedem Pathos.

Lapidar bis polemisch (»Putin ist sauer: Die Ukraine vermasselt ihm die Olympischen Spiele«) schildert der Autor die Geschehnisse. Die teilweise lakonische Zusammenwürfelung von ukrainebezogenen Schlagzeilen aus aller Welt erinnert an ›Die Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten‹ der literarischen Ikone Lina Kostenko. Mit bitterer Ironie und Sarkasmus berichtet der Chronist von Groteskem, wie den Delfinen und Seelöwen im Schwarzen Meer, die russische Militärzoologen und -ingenieure angeblich für Kampfeinsätze trainieren. »Freilich sind das jetzt russische und keine ukrainischen Delfine mehr.«

Des Wartens auf den Krieg müde

Wir werden mit vielen ukrainischen Namen und Orten konfrontiert. Hier helfen auch die Erklärungen im Anhang nicht immer weiter. Aber das sollte keinesfalls abschrecken, denn man hat nicht oft die Chance, eine Revolution hautnah mitzuerleben oder in die Feinheiten des ukrainischen Dilemmas einzutauchen, so beispielsweise wenn Kurkow den Unterschied zwischen ethnischer, nationaler und psychologischer Zugehörigkeit erklärt: »Ich bin schließlich auch Russe, ethnischer Russe – und Bürger der Ukraine. Aber ich bin kein ›Russländer‹, weil ich mit Russland, mit seiner Politik nichts zu tun habe, weil ich keinen russischen Pass besitze und auch nicht besitzen will.«

Die Aufzeichnungen enden am 24. April 2014, einen Monat vor den Neuwahlen. Bis heute ist das Schicksal der Ukraine offen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. »Alle sind des Wartens auf den Krieg müde, der Drohungen Russlands, der Angst um die Zukunft. Man möchte diese Seite der ukrainischen Geschichte so schnell wie möglich umblättern und zum Happy End kommen!«

| JUTTA LINDEKUGEL

Titelangaben
Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests
Aus dem Russischen von Steffen Beilich
Innsbruck: Haymon 2014
280 Seiten. 17,90 Euro

Reinschauen
| Klischees und Politik – Jutta Lindekugel über Popmusik und Nationenwerdung: Ukrainische Teilnehmer beim Eurovision Song Contest

Lesereise 2014

Andrej Kurkow:
28.8., Lenzburg, Aargauer Literaturhaus
12.9., Konstanz, Konstanzer Konzil
14.9., Berlin, internationales literaturfestival berlin

Andrej Kurkow gemeinsam mit Jurij Wynnytschuk:
5.10., Marburg, Neue Literarische Gesellschaft
8.10., Wien, Hauptbücherei am Gürtel
9.10., Berlin, Dorotheenstädtische Buchhandlung
10.–12.10., Frankfurt, Frankfurter Buchmesse

Andrej Kurkow:
13.10., Tübingen, Osiandersche Buchhandlung
14.10., Hannover, Literaturhaus Hannover
15.10., Köln, Literaturhaus Köln

Andrej Kurkow gemeinsam mit Jurij Wynnytschuk:
20.10., Leipzig, Literaturhaus Leipzig
21.10., Graz, Kulturzentrum bei den Minoriten
22.10., Innsbruck, Literaturhaus am Inn
23.10., Salzburg, Literaturhaus Salzburg
24.–25.10., Spitz, Europäische Literaturtage
26.10., Zürich, Zürich liest

Andrej Kurkow:
27.10., Ravensburg, Ravensbuch
28.10. Friedberg, Buchhandlung Bindernagel
30.10. Göttingen, Literarisches Zentrum Göttingen
31.10., Meerbusch, Buch- und Kunstkabinett Konrad Mönter
6.11., Ehingen, Ehinger Buchladen
7.11., Basel, Buch Basel

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Sind Menschenrechte teilbar?

Nächster Artikel

Liebe und Leid

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Irgendwo und überall in Deutschland

Gesellschaft | Christiane Fritsche: Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt / Christiane Fritsche: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus« Lange vor dem Massenmord an den europäischen Juden setzten die Nationalsozialisten ein anderes Programm in die Tat um: die Verdrängung der deutschen Juden aus dem Wirtschaftsleben. Was das im Einzelnen für Geschädigte wie für die vielen Nutznießer bedeutete, können nur Lokalstudien belegen. Die beiden von Christiane Fritsche erarbeiteten Bücher zur Arisierung in Mannheim sind hervorragende Beispiele dafür. Von PETER BLASTENBREI

Eine menschliche Dimension

Gesellschaft | Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung Armageddon kennen wir als den biblischen Ort der finalen Schlacht zwischen den Mächten des Guten und des Bösen, und Jean Ziegler sieht die Menschen in der Endphase eines globalen Klassenkampfes. Auf der einen Seite stehen die paar Oligarchen, die transnational die ökonomischen Abläufe beherrschen und steuern, auf der anderen Seite der Rest der Menschheit. Von WOLF SENFF

Tod made in Germany

Gesellschaft | Hauke Friederichs: Bombengeschäfte Es gibt zuverlässig krisenfeste Unternehmen. Arbeitsagenturen, zum Beispiel, oder Insolvenzverwaltungskanzleien. Und dann ist da noch eine ganze buchstäblich bombensichere Industrie, bei der nie ganz klar wird, ist sie (wie) geschaffen für Krisen oder umgekehrt? Die Rüstungsindustrie. Wie und wo ihre Geschäfte brummen, recherchiert der Journalist Hauke Friederichs seit langem. In Bombengeschäfte. Tod made in Germany erzählt er auch, von wem im Staate Deutschland sie (nicht immer legal) gefördert und gefordert werden. Von PIEKE BIERMANN

Unsere Polit-Strategen

Gesellschaft | William Drozdiak: Der Zerfall. Europas Krisen und das Schicksal des Westens Zerfall. Schön und gut. Wenn allerdings später im Text von einem »ungewissen Ausgang des Streits um den Aufbau des vereinten Europa« die Rede ist, entsteht der Eindruck, dass es William Drozdiak bzw. dem Verlag bei dem Titel darum geht, mit einer kräftigen Prise Alarm eine Menge Staub aufzuwirbeln. Von WOLF SENFF

Den Blick für die Wirklichkeit öffnen

Gesellschaft | Götz Eisenberg: Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus   Seine Eindrücke sammelt Götz Eisenberg oft dort, wo das Grauen am auffälligsten zutage tritt: an der ›Coolness‹ unserer Sprache, die Zeugnis ablegt von einem befriedeten, glatten Alltag, dessen etwaige Dellen und Rostbeulen sogleich von allgegenwärtigen »Ingenieuren der Seele« (Joseph Stalin) eingeebnet werden. Von WOLF SENFF