Gesellschaft | Stéphane Hessel / Véronique de Keyser: Palästina. Das Versagen Europas
Auch oberflächliche Beobachter wundern sich immer wieder über die Diskrepanz zwischen den vollmundigen außenpolitischen Erklärungen der EU und ihrer praktischen Nahostpolitik. Hier Menschen- und Völkerrechte pur ohne Abstriche als einzige politische Richtschnur, dort ständiges Einknicken vor anscheinend unabänderlichen Realitäten. Eben das prangert die langjährige belgische Europaabgeordnete Véronique de Keyser in ihrem, mit Stéphane Hessel gemeinsam erarbeiteten Buch ›Palästina: Das Versagen Europas‹ an. Von PETER BLASTENBREI
Stéphane Hessel braucht man seit seiner Broschüre ›Empört Euch!‹ von 2010 kaum mehr vorzustellen. Die ebenso klare wie leidenschaftliche Einleitung dieses Buches ist der letzte Text des im Februar 2013 verstorbenen großen Europäers. Véronique De Keyser, geboren 1945, war Psychologieprofessorin in Liège, seit 2001 Abgeordnete der belgischen (frankophonen) Sozialisten im Europaparlament und zuletzt Vizepräsidentin der Fraktion der europäischen Sozialisten. 2014 verzichtete sie auf eine neue Kandidatur, weil ihre Partei ihr bei der Europawahl nur einen Platz als vorletzte Ersatzkandidatin anbot. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um in dieser innerparteilichen Intrige auch die Strafe für eine profilierte Israelkritikerin zu sehen.
De Keyser beschreibt hier die jüngste Geschichte Palästinas (und des Nahostkonflikts) von der Wahl zum Parlament in Ramallah 2006 mit dem denkwürdigen Sieg der Hamas bis hin zum Arabischen Frühling und seinen (ausgebliebenen) Auswirkungen auf Palästina. Die Autorin hat die Ereignisse nicht nur als unbeteiligte Beobachterin miterlebt, sondern als Parlamentarierin und bei mehreren heiklen Missionen an Ort und Stelle mitgestaltet.
Viele Köche
Viele Male hat sie die Region bereist: 2003 zusammen mit Stéphane Hessel auf Einladung israelischer Friedensaktivisten zur Dokumentation der Situation in den Palästinensergebieten, 2005 mit der EU-Delegation zur Amtseinführung von Präsident Abbás, 2006 als Mitglied der europäischen Wahlbeobachterkommission und schließlich 2009 mit der kleinen Gruppe von Mutigen, die sich in einer Feuerpause von wenigen Stunden über die Grenze bis nach Rafah im Gazastreifen vorwagten. Was den Reiz des Buches ausmacht, ist also nicht nur verlässliche und umfassende Information, sondern eben auch seine Authentizität und die enge Verknüpfung nahöstlicher Ereignisse mit den europäischen Reaktionen darauf.
Dabei spart die Autorin nicht mit Kritik an der offiziellen, anscheinend hilflos rudernden EU-Nahostpolitik. Sicher, vieles davon ist Ausfluss der überkomplizierten Strukturen. Wo anderswo ein Außenminister agiert, leistet sich die EU mehrere Institutionen auf höchster Ebene, die alle irgendwie mit Außenpolitik befasst sind. Der Rats-Vorsitzende und der Außenkommissar der EU-Kommission, bis dahin Konkurrenten, sind zwar seit 2011 in einer Person vereint, der Außenbeauftragten der EU, die Reform hat die Position aber nicht mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet.
Das europäische Parlament hat gar keine außenpolitischen Befugnisse, wirkt aber über seine Finanzhoheit und seine politischen Resolutionen kräftig mit. Und dann sind da noch die Außenminister der 28 Mitgliedsstaaten, die ja keineswegs auf ihre politische Souveränität verzichtet haben. Das Ergebnis ist eine oftmals jämmerliche Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, den man sich gar nicht klein genug vorstellen kann, mit den üblichen Verdächtigen als proisraelischer Lobby (Deutschland, Niederlande, Polen, Tschechien, Frankreich unter Sarkozy). Europa schafft es auf diese Weise weder, auf arabische Friedensvorstöße vernünftig zu reagieren, noch, dem israelischen Durchmarsch zu einer EU-Mitgliedschaft ohne Pflichten eine Linie entgegenzusetzen.
Fehlender Wille
Ersatz für das fehlende eigene Nahostkonzept bieten Vorgaben aus den USA und Israel. Will Israel nicht mit der Hamas verhandeln, setzt die EU die Organisation eben flugs auf ihre Terroristenliste – eine Klassifizierung übrigens, die von Sicherheitsexperten souverän ohne jede Kontrolle vorgenommen wird. Höhepunkt war bisher das wüste Gerangel um die Aufnahme Palästinas als Beobachter in die UN-Vollversammlung und als Vollmitglied in die UNESCO. Europäische Diplomaten genierten sich nicht, den Palästinensern hinter den Kulissen die europäischen Stimmen gegen deren Verzicht auf ihr Klagerecht beim internationalen Gerichtshof anzudienen.
Dennoch sind das keine zwangsläufigen Folgen der EU-Strukturen – die gegenwärtige Ukraine-Krise etwa zeigt uns eine einige und wunderbar tatkräftige EU. De Keyers durchaus nachvollziehbare Botschaft lautet: der EU fehlt es am Willen zu einer echten eigenen Nahostpolitik. Stattdessen zieht sie sich auf eine perspektivlose, weil offen parteiliche Vermittlerposition zurück, warnt wie eine alte Tante beide Seiten vor Gewalt und zückt ab und zu die Geldbörse zur Linderung von Kollateralschäden. An Sanktionen zur Durchsetzung des Völker- und Menschenrechts, sonst ein beliebtes Mittel der EU-Außenpolitik, ist hier nicht zu denken. Nicht einmal für die längst zerbombte, von ihr bezahlte Infrastruktur in Gaza hat die EU je Schadenersatz gefordert.
Klartext
De Keysers Sprache ist knapp und konzentriert, zugleich anschaulich und bildkräftig (übrigens hervorragend übersetzt). Sie schafft es nicht nur, in wenigen Sätzen unendlich verwickelte Sachverhalte wie das EU-Assoziierungsverfahren verständlich zu machen, sie findet auch überaus treffende Formulierungen zur Charakterisierung der EU-Politik. Das Bild von der europäischen Nahostpolitik, die an US-Vorgaben klebt wie ein alter Kaugummi an der Schuhsohle (S. 25) ist ebenso überzeugend wie humorvoll.
Nicht weniger treffend ist »trahison« im französischen Titel. »Trahison« allerdings heißt Verrat, nicht Versagen – und ein Verrat Europas liegt hier vor, ein doppelter Verrat, an einem Volk, das dringend ehrliche Freunde bräuchte, und an den eigenen Idealen.
Titelangaben
Stéphane Hessel/ Véronique de Keyser: Palästina: Das Versagen Europas
(Palestine, la trahison européenne, 2013)
Deutsch von Barbara Heber-Schärer und Ulrike Bokelmann
Zürich: Rotpunktverlag 2014
208 Seiten. 19,90 Euro
Reinschauen
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