Comic | Alison Bechdel: Wer ist hier die Mutter?
Die »hinreichend fürsorgliche Mutter« entstammt dem psychoanalytischen Modell Donald Winnicotts. Alison Bechdel zieht ihn und andere Geistesgrößen zu Rate, um in einem ›Work-In-Progess‹-Comic das komplizierte Verhältnis zu ihrer Mutter zu entschlüsseln – mit der literarischen Wucht, mit der sie bereits in ›Fun Home‹ die tragische Geschichte ihres Vaters sezierte. Von Von CHRISTIAN NEUBERT
Die für ihr Comic-Langdebüt ›Fun Home‹ gefeierte Künstlerin Alison Bechdel hat nachgelegt: Bereits 2012 erschien ihr autobiographisches Zweitwerk ›Are You My Mother?‹, das nun – verlegt von Kiepenheuer & Witsch – als ›Wer Ist Hier Die Mutter‹ auch in deutscher Sprache vorliegt. In Erstgenanntem zeichnet sie autobiographisch und mit literarischen Referenzen gespickt ihre Kindheit und Jugend nach. Das Hauptaugenmerk des beachtlichen Werks liegt auf dem schwierigen Verhältnis zu ihrem Vater: In chronologischer Ordnung und einem Aufbau, der sich einer linearen Nachempfindung verweigert, reflektiert die Autorenzeichnerin ihre Homosexualität, während sie die uneingestandene ihres Vaters aufdeckt. Sie schuf das Werk parallel zu ihrer langjährigen Comicstripreihe ›Dykes To Watch Out For‹.
In Sachen autobiographischen Erzählens in Comicform kann man ›Fun Home‹ getrost im gleichen Atemzug mit Art Spiegelmans ›Maus‹ und Marjane Satrapis ›Persepolis‹ nennen. Werke wie diese sind singuläre Erscheinungen, wie es sie vielleicht zwei, drei Mal pro Dekade gibt. Genau da liegt aber nun die Gefahr: Liegt die eigene Messlatte dermaßen hoch, steht es zu befürchten, dass der Nachfolger dem selbst gesetzten Standard nicht gerecht wird.
Messlatte gemeistert
Machen wir’s kurz: Ihr autobiographisches Zweitwerk hält den Vergleich mit seinem Vorgänger stand. ›Wer Ist Hier Die Mutter‹ verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie ›Fun Home‹. Bechdel reflektiert ihre eigene Person diesmal im Hinblick auf das Leben ihrer Mutter – mittlerweile als Erwachsene, nach dem vermuteten, aber wahrscheinlichen Selbstmord ihres Vaters. Ihre Vorgehensweise kann man erneut wohl am besten mit akribisch beschreiben, und wieder stößt man auf zahllose Referenzen, die weit über die Funktion bloßer Fingerzeige oder zeitlicher Einordnungen hinausreichen. ›Fun Home‹ sezierte ihre ›Familie Von Gezeichneten‹, so der Untertitel, parallel zu geistreichen Anspielungen auf große Literaten. Nun sind Psychologen ihre Stichwortgeber.
Bechdel (de-)konstruiert ihr grafisches Abbild unter Einbezug psychoanalytischer Schriften. Sie bemüht Siegmund Freud und Carl Gustav Jung, vor allem aber Donald Winnicott und Alice Miller, um ihrer Mutter-Tochter-Beziehung auf den Grund zu kommen. Dabei erweist sie sich als beflissene Kennerin derer Schriften. Sie ist im Rahmen ihrer eigenen jahrelangen therapeutischen Behandlung auf sie gestoßen und hat sie parallel zu ihren psychoanalytischen Sitzungen studiert. Ihr Fachwissen bringt sie gewinnbringend egozentrisch ein, um Zusammenhänge zu knüpfen, die als Erklärungsansätze des unterkühlten Verhältnisses herhalten – mal augenscheinlich, mal amüsant, mal abwegig, aber niemals willkürlich.
Intimer Blick in die Tiefe
Die Erzählung selbst entwickelt sie dabei peu à peu während ihrer Entstehung. Vielleicht ist das der große Clou von ›Wer Ist Hier Die Mutter‹: Bechdel münzt die Genese des Comics zum autoreferenziellen Element der Nachzeichnung ihres Mutter-Tochter-Verhältnisses. Sie konstruiert den Band aus dem Stoff von Erinnerungen, Therapiesitzungen, Telefonaten und Traummotiven, die sie aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und die – in Zusammenhang mit theoretischen Konstrukten gebracht – viel über die beiden Frauen andeuten und offenbaren. Wie gut das auf den unterschiedlichen Erzählebenen, die Bechdel gleichzeitig beackert, funktioniert, ist schlichtweg erstaunlich.
›Wer Ist Hier Die Mutter‹ ist ein psychologisches Puzzlespiel; die Lektüre des Bandes erlaubt einen intimen, aber nie voyeuristischen Blick auf die Autorin beim Zusammensetzen der Teile. Sind die Puzzlestücke nach und nach zusammengesetzt, gestatten sie einen tiefen Blick in eine schwierige Beziehung, der einen sich mehr oder weniger auch selbst im Hinblick auf seine Mutter erkennen lässt. Dass sich Bechdel bei diesem außergewöhnlichen Leseerlebnis erneut als Zeichnerin zeigt, die ihren sorgfältigen Strich mit feinem Gespür in den Dienst von Stimmung und Rhythmus zu stellen versteht, setzt dem beachtlichen Werk noch die Krone auf.
Titelangaben
Alison Bechdel: Wer ist hier die Mutter? (Are you my Mother?)
Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014
304 Seiten, 22,99 Euro
Reinschauen
| Leseprobe auf der Verlagshomepage
| Alison Bechdel im Blog von Kiepenheuer & Witsch
| Homepage der Künstlerin
[…] “Von, über und für die hinreichend fürsorgliche Mutter” – Christian Neubert auf titel-kulturmagazin.net über “Wer ist hier die Mutter?” von Alison Bechdel (KiWi) […]