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Vögel – Spitzenerzeugnisse der Natur

Kulturbuch | Josef H. Reichholf: Ornis. Das Leben der Vögel

Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber es gibt sie, diese Parallelwelt. Den Briten, heißt es, seien die Vögel besser bekannt als die Menschen; was daran liege, dass es unter ihnen besonders viele Ornithologen gebe. Ornithologie ist wie ein Praktikum in einer Welt zu schön, um wahr zu sein, ein weit entfernter Himmel, du lässt einfach nur zu, dass die Welt der Vögel von dir Besitz ergreift, schon bist du hin und weg. Na ja, merkwürdig ist das schon – ein Thema, das in der Presse gar nicht existiert. Von WOLF SENFF

reichholf vögelAuf Wissenschaftsseiten liest man gelegentlich über Vögel, etwa wenn per Beringung und per Satellitenkontakt neue Flugwege nachgewiesen wurden. Aber dass Ornithologie ein weltweit verbreitetes Hobby wäre, »mehrere Millionen dürften es sein«, davon, so schätzt Reichholf, »Hunderttausende wirklich qualifizierter Vogelbeobachter« – liest man davon?

Der oberseits weiß gefiederte Ansatz des Schwanzes

Sicher, es gibt Fachzeitschriften, es gibt Organisationen, gibt ein Max-Planck-Institut für Ornithologie, aber die Medienwelt setzt andere Schwerpunkte. Naturfilmniveau, das ist bekannt, vor einigen Monaten erst wurde eine als Pinguin verkleidete Kamera zu den Pinguinen gesellt, remote control. Nein, mit Ornithologie hat das nichts zu tun.

Es gibt Bestimmungsbücher für Vögel, reich bebildert, doch es ist bei weitem nicht so, dass einer das Buch mit auf die Wiese nimmt, reinsieht und ruft: Das ist er! Für den Anfang mag ein Bestimmungsbuch eine Hilfe sein, aber, Originalton Josef Reichholf, ca. vierzehnjährig: »Was ich bei der Bestimmung hätte berücksichtigen sollen, das waren der beim Rotschenkel breite weiße Streifen im Flügel, der längere Schnabel und der oberseits weiß gefiederte Ansatz des Schwanzes«.

Vom Unterteilen und Zergliedern

Josef Reichholf zeigt auch am eigenen Beispiel, wie man nach und nach tiefer in der Welt der Ornithologen versinkt und mit Ergebnissen eigener Beobachtungen dazu beiträgt, Veränderungen in der Vogelwelt – etwa bei den Flugwegen der Kraniche – zu erkennen und Rückschlüsse über den Zustand der eigenen Lebenswelt zu ziehen.

Kernproblem nämlich der »analytischen Naturwissenschaft« sei, dass sie »aufteilt, getrennt betrachtet und aus immer kleineren Details Schlüsse zieht«. Er ist nicht der erste, der darauf hinweist. Diese atomistische Methodik finden wir in diversen Disziplinen, sie ist hartnäckig, aggressiv und langlebig.

Sie können Alarm schlagen, nur bitte nicht jetzt

Es überrascht, zu erfahren, dass einer der prominentesten deutschen Naturwissenschaftler von Berlin als einer »Weltmetropole für die Vögel« spricht, während der ländliche Raum »unter dem Einfluss der modernen Landwirtschaft« verödet sei. Jüngste Untersuchungen bestätigen einen generellen Rückgang des hiesigen Vogelbestands seit Ende der neunziger Jahre, insbesondere der brütenden Vögel.
Reichholf erklärt diese Veränderung als Folge der Umstellung der traditionell bäuerlichen Landwirtschaft auf industrialisierte Agrarwirtschaft und großflächige Monokulturen. »Die Landwirtschaft ist in dieses System hineingetrieben worden, aus dem es ohne einen Zusammenbruch anscheinend keim Herauskommen mehr gibt«.

Die Überdüngung mit Gülle sei bereits seit den achtziger Jahren für den generellen Rückgang der Artenvielfalt verantwortlich, und es verwundert, dass medialer Mainstream und politische Öffentlichkeit die erwähnte Veränderung des Lebensraums achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Das Phlegma in den Redaktionen und den Parlamenten muss gewaltig sein. Sie können Alarm, das ist bekannt, nur gerade nicht bei diesem Thema.

Wofür der Mensch Spitzentechnologien entwickelt

Wir erfahren vom Unterschied zwischen Nestflüchtern und Nesthockern und lernen, dass Nesthocker die intelligenteren Lebewesen sind, wir erhalten endlich auch Antwort auf die Frage, weshalb Spechte kein Kopfweh kennen. Der Papagei kann mit seinem Schnabel eine Paranuss so knacken, dass nur die Schale zu Boden fällt. Die Amsel identifiziert den Regenwurm aufgrund der Kratzgeräusche, die seine Borsten beim Kriechen in den Regenwurmröhren des Erdbodens erzeugen, der tropisch-südamerikanische Königsgeier riecht Tierkadaver, die am Boden liegen, durch das Blätterdach des Urwalds. Spitzentechnologien der Natur.

Wenn man all diese Details liest, wächst der Respekt vor den Abläufen der Natur und man steht wieder einmal vor der Frage, weshalb sich der Mensch auf seine Errungenschaften so viel zugutehält, zumal seine Spitzentechnologien zuallererst den Zweck haben, Kriege zu führen.

Der Ingenieur und der Vogel

Josef Reichholf stellt anschaulich dar, welche gewaltige Energieleistung der Vogel erbringt, damit er leicht und scheinbar schwerelos durch die Lüfte gleiten kann – es beginnt bei der besonderen Beschaffenheit der Lungen und setzt sich fort in der Tatsache, dass er Federn hat bzw. dass er mausert.

Raffinierte Technik, konstatiert der Ingenieur, während sich noch der winzigste Vogel über die Fluggeräte des Menschen amüsieren dürfte. Zumal ihm im Allgemeinen selten eine Bruchlandung unterläuft, dem Vogel. Er bricht sich weder die Beine beim Aufsetzen noch hat er die geringste Ahnung, wie das gehen soll, dass er abstürzt.

Noch Fragen?

Wir wissen nun noch genauer, weshalb bei Vögeln die Männchen prächtig gefiedert herumlaufen bzw. -fliegen und die Weibchen sich schlicht und unauffällig kleiden, und Josef Reichholf erklärt überzeugend, wie entwicklungsgeschichtlich aus den kurzbeinigen, kriechenden Reptilien so zierlich dünnbeinige, fliegende Vogelwesen wurden.

Wir genießen diese auf eine liebenswerte Weise unterhaltsame, spannend lesbare und von schier unerschöpflicher Sachkenntnis getragene Darstellung, die im letzten Teil die Verbreitung der Vögel in ihren Lebensräumen und deren Veränderungen beschreibt.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Josef H. Reichholf: Ornis. Das Leben der Vögel
München: C.H.Beck 2014
272 Seiten (80 Abbildungen). 19,95 Euro

Reinschauen
| Leseprobe ›Josef H. Reichholf: Ornis‹

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