Kinderbuch | Nikolaus Heidelbach: Was machen die Mädchen heute / Was machen die Jungs heute
Die Jugend heute ist auch nicht mehr das, was sie mal war? Von wegen! Wer daran zweifelt, sollte sich Nikolaus Heidelbachs neue Bilderbücher anschauen. ANDREA WANNER hat einen Blick riskiert.
1993 fragte Heidelbach ›Was machen die Mädchen?‹ Seine Antworten waren schräg und fantastisch, zu 26 Mädchen von Antraut bis Zeralda – eines für jeden Buchstaben des Alphabets – präsentierte er eine ungewöhnliche Szene mit der jeweiligen jungen Dame und einen kurzen Satz dazu. Erst sechs Jahre später, 1999, folgte ›Was machen die Jungs?‹ und lieferte mit Alfred, Bernd, Charles … Yodrick und Zacharias auch das männliche Pendant. Und jetzt nimmt er in zwei Bilderbüchern im Zuge echter Gleichberechtigung Jungs und Mädels gleichzeitig in den Blick und sucht Antworten nach dem, was sie »heute« beschäftigt.
Aus dem Quer- wurde ein Hochformat, etwas verschlankt aber typisch Heidelbach betreten nun Anneliese, Bettina und Cleo die Bühne. Cleo zum Beispiel sitzt im falschen Kino. Die Wendung »Ich glaub, ich sitz im falschen Film«, kennt man ja. Ob der Film der richtige ist, wissen wir nicht, Cleos Umgebung, das heißt ihre Sitznachbarn im Lichtspielhaus, sind allerdings über die Maßen merkwürdig: Schwabbelige, gruselige Monster, wabbelnde Außerirdische, frankensteinähnliche Kreaturen, in der vordersten Reihe eine bebrillte Lehrerin (so sieht sie zumindest aus). Und mittendrin mit Rattenschwänzen und einer großen Tüte Popcorn die wenig glücklich wirkende Cleo.
So richtig glücklich sind sie überhaupt selten, die Mädchen heute. Manchmal irgendwie zufrieden, wie die dreckverschmierten Gabi, Gundel und Gretel, die sich im Garten gerade eine Mama gebaut haben, eine riesengroße Lehmfigur, die ein bisschen an die 25.000 Jahre alte Venus von Willendorf erinnert. Oder Reni, die sich auf dem Trampolin fit hält. Was mithüpft ist ein Schädel, Symbol der Vergänglichkeit. Und auch das Blumenmotiv der Tapete – Tulpen mit hängenden Köpfen – geht leicht als Vanitasmotiv durch. Heidelbach scheut vor nichts zurück. Wenn Qually ein Top-Modell wird, ist der Preis dafür ein hoher: Sie steckt bis auf den Kopf im Maul eines riesigen Nilpferdes. Und die Spiegelszene, in der Pepita staunt, ist in ihrer Deutlichkeit nicht zu überbieten: mit weit gespreizten Beinen sitzt Pepita auf dem Boden vor dem Spiegel, aus dem uns ihr Gesicht entgegenschaut. Intensiv ist sie mit der Untersuchung ihres Genitalbereichs beschäftigt, der perspektivisch geschickt für den Bilderbuchbetrachter durch ihren Rücken mit dem blauen Oberteil mit den weißen Punkten verborgen ist.
Es sind solche Intimitäten, Grausamkeiten und Grenzüberschreitungen, die die Ansichten über den Bilderbuchkünstler in begeisterte Fans und entgeisterte Anfeinder zerfallen lassen.
Den Jungs geht es nicht besser. Arno träumt. Vom Kuss einer bezaubernden Meerjungfrau. So wie Arno aussieht – schon als kleiner Junge oberspießig mit Brille, brauner Hose, grüner Jacke und Krawatte, dazu ein Fernglas um den Hals – werden manche Dinge in seinem Leben wohl Träume bleiben. Bodo sehen wir bei einer ganz typischen Beschäftigung: er sitzt am Computer und spielt angeblich ganz allein. So alleine, wie man bei so einem Tun ist. Dass das geometrische Muster der Tapete hinter ihm dabei zu ihn anstarrenden Augen wird, ist eine geniale Doppeldeutigkeit. Und wenn Ole beim Salto im Freibad im freien Flug seine Badehose verliert, ist das eine Peinlichkeit ungeheuren Ausmaßes.
26 Mädchen und 26 Jungs in Situationen, die selten als »nett« durchgehen. Es wird erneut Aufschreie geben, wie man Kinder so etwas zumuten kann. Noch immer ist kindliche Sexualität ein Thema, das Erwachsene verunsichert. Kindliche Grausamkeit findet selten den Weg in Bilderbücher. Unangenehme Situationen sind meistens nur Ausgangspunkt, die Geschichte zeigt die Lösung. Anders hier. Heidelbachs Umgang mit Kindern im Bild unverkrampft. Letztlich ist er nur ein sehr genauer Beobachter, der die kindliche Egozentrik in ihrer ganzen Konsequenz einfängt. »Also ich finde, man kann bei Kindern sehr hinreißende Sachen beobachten, aber auch hinreißende Gemeinheiten.« hat er in einem Interview zu ›Was machen die Mädchen‹ geäußert und wirft Blicke in die Abgründe der kindlichen Seele.
Wer das nicht mag, sollte die Finger davon lassen, denn Heidelbach ist extrem. Für alle anderen kann das zu spannenden Auseinandersetzungen – auch mit den eigenen Kindern – führen. Die haben vielleicht längst ähnliche Fantasien wie Murat mit seinen Boxhandschuhen und dem trendigen Undercut, der »gegen seine Eltern« kämpft: einen an der Decke befestigten Sandsack – bekleidet mit einem weißen Herrenslip mit Eingriff und einem schwarzen BH. Tja. Schräg eben.
Titelangaben
Nikolaus Heidelbach: Was machen die Mädchen heute
Weinheim: Beltz & Gelberg 2014
62 Seiten. 16,95 Euro
Bilderbuch ab 7 Jahren
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Nikolaus Heidelbach: Was machen die Jungs heute
Weinheim: Beltz & Gelberg 2014
62 Seiten. 16,95 Euro
Bilderbuch ab 7 Jahren
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