Lauerndes

Jugendbuch | Andreas Steinhöfel: Anders

Was tut ein Mensch mit der Möglichkeit, von vorne anzufangen, einen neuen Weg einzuschlagen. Felix trifft seine Wahl: Er wird Anders. Von ANDREA WANNER

andersIst es überhaupt eine Entscheidung? Felix liegt nach einem Unfall an seinem 11. Geburtstag 263 Tage im Koma. Als er wieder aufwacht, erinnert er sich an nichts. Er erkennt seine Eltern nicht mehr und hat keinerlei Erinnerung an seine Mitschüler. Und er weiß nicht, wer er selber ist. Er wird nach Hause entlassen und soll zurück ins Leben finden. Er kennt Verhaltensmuster, hat seine kognitiven Fähigkeiten nicht verloren aber alle emotionalen Bindungen gibt es nicht mehr.

Es gilt Leerstellen zu füllen. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Interessen daran, wie das geschehen soll. Seine Mutter hat aus Felix, Nomen es Omen, längst ein Projekt gemacht. Ihr Sohn dient dazu, eine erfolgreiche Familie zu präsentieren, die alle gesellschaftlichen Normen erfüllt. Felix war angepasst, fügsam. Anders verweigert sich ihren Wünschen und Vorstellungen. Der Vater stellt fest, dass er nie eine Beziehung zu seinem Sohn hatte. Wie diesem helfen sich zu erinnern, wenn man selber keine Ahnung hat, woran. Hobbys? Interessen? Mit Ach und Krach stottert er ein paar zusammen, sich selbst Rechenschaft ablegend vor einem imaginären Publikum. Nein, er hat Felix nicht gekannt und sieht in der frischen Beziehung zu Anders auch eine Chance. Und dann gibt es noch Mitschüler, eine Lehrerin, einen ehemaligen Nachhilfelehrer, die einen ganz eigenen Blick auf die Amnesie des Jungen haben.

Steinhöfel komponiert daraus eine Geschichte ganz eigener Art. Dem psychologischen Hauptstrang fügt er Thrillerelemente bei und macht, ergänzt durch Polizeiprotokolle, aus dem Vorfall einen Kriminalfall, bei dem man sich der Lösung ganz allmählich annähert.

Und der letzte Kunstgriff: Die Geschichte spielt an der Lahn und da lauert in einem tiefen Wasserloch, der Nixengrube, ein Flussweib, das sich an den Menschen für einen schrecklichen Verlust rächen will. Aberglaube, Mythos und Magie durchziehen den Roman, ergänzt durch Spiele mit Primzahlen, Anders erstaunliche Fähigkeit, die Aura eines Menschen sehen zu können, und vielzählige Andeutungen, dass das Rätsel vielleicht ganz anders gesehen werden muss.

Steinhöfel erzählt von Verlust und Chancen, von der Verantwortung, die jeder Mensch übernehmen muss, für das, was er tut. Und davon, was geschieht, wenn sich Menschen ihrer Verantwortung entziehen. Er präsentiert uns schwache, zögerliche Menschen und stellt ihnen Anders gegenüber, der dem Leser fremd bleibt und sich nicht zu Identifikation anbietet. Darin liegt wahrscheinlich die Hauptschwierigkeit des Buches für junge Leser: in dem zwölfjährigen Protagonisten niemanden zu finden, an dem man sich tatsächlich orientieren oder von dem man sich abgrenzen kann, weil er sich allen Deutungsversuchen entzieht. Aber vielleicht ist auch das eine spannende Erfahrung und öffnet den Blick für Möglichkeiten, die wir Menschen haben.

Wunderschön gestaltet ist der Roman im neuen Königskinder Verlag. Weiß, Gold und Schwarz sind die Farben, kleine Vignetten von Peter Schössow den Kapiteln vorangestellt, ein goldenes Lesebändchen: Alles sparsam dosiert und edel. Der passende Rahmen für ein Buch, das in jeder Hinsicht »anders« ist.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Andreas Steinhöfel: Anders
Mit Bildern von Peter Schössow
Hamburg: Königskinder 2014
200 Seiten. 16,90 Euro
Ab 12 Jahren

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Abgründe

Nächster Artikel

Relikte aus dem Kalten Krieg

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Ein Blick in Abgründe

Jugendbuch | Djaïli Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen

Geduld, »Munyal!«, ist es, was man den muslimischen Frauen im nördlichen Kamerun mit auf den Lebensweg gibt. Es durchzieht ihre kurze Kindheit, ehe sie, immer noch junge Mädchen, von ihren Vätern verheiratet werden. An Männer, die oft so alt sind wie ihr Vater, die taktisch klug gewählte Geschäftspartner sind oder auch gewalttätige Trunkenbolde. Geduld fordert man von ihnen, egal, ob sie die erste Frau oder die zweite, dritte, vierte in polygamen Ehen sind, Geduld, egal was geschieht. Von ANDREA WANNER

Eine wahre Heldin

Jugendbuch | Ann Petry: Harriet Tubman

Harriet Tubman wurde um 1820 in Maryland in einer fensterlosen Hütte auf der Brodas-Plantage als Araminta Ross, der Tochter von Harriet Greene und ihrem Ehemann Benjamin Ross geboren. Aus dem kleinen Mädchen wurde die wohl bekannteste Fluchthelferin der Underground Railroad. Eine wahre Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten sollte, findet ANDREA WANNER

Steife Finger

Jugendbuch | Claudia Schreiber: Solo für Clara Ein besonderes Talent zu haben, ist großartig. Es ausüben zu können ohne mehr Grenzen, als das Gegebene einer setzt, fast ein Wunder. Aber alles hat zwei Seiten, der einen Freud ist bekanntlich anderer Leid. Daraus könnte man eine großartige Geschichte machen. Allerdings darf man sie nicht mit so steifen Fingern schreiben, wie Claudia Schreiber es hier in ›Solo für Clara‹ tut. Von MAGALI HEISSLER

Auf der Suche nach der Wahrheit

Jugendbuch | Kevin Brooks: Travis Delaney. Was geschah um 16:08? Bei einem Autounfall kommen die Eltern von Travis ums Leben. Nichts ist mehr, wie es war. Der 13jährige trägt natürlich schwer an diesem Verlust. Aber es gibt noch andere Dinge, die ihn beschäftigen. ANDREA WANNER hat eine tragische, aber auch ungewöhnliche Detektivgeschichte für Jugendliche gelesen.

Verwirrung total

Jugendbuch | Hayley Long: Sophie Soundso Dass man zuweilen nicht weiß, wo man gerade steht im Leben, ist normal. Dass man nicht weiß, wer genau man ist, eher nicht. Die daraus resultierende Verwirrung wächst sich schnell zu einem fundamentalen Problem aus. Nicht zuletzt, wenn man davon erzählen will. Hayley Long führt ihren Leserinnen höchst unkonventionell totale Verwirrung vor. Von MAGALI HEISSLER