Was du nicht siehst, kann doch dein Herz brechen

Comic | Luke Pearson: Was du nicht siehst

Was haben verpasste E-Mails, tanzende Bäume und levitierende Rentnerinnen gemeinsam? ›Hilda‹-Erfinder Luke Pearson hat mit einem kleinen, melancholischen Märchen für Erwachsene BORIS KUNZ zum Nachdenken gebracht.

wasdunichtsiehstEtwas läuft schief bei Will und seiner Freundin: Sie möchte am Sonntagmorgen ausschlafen, anstatt in aller Frühe Sex mit ihm zu haben, er ist beleidigt und wirft ihr vor, langweilig zu sein. Als er dann keinen Bock hat abends mit ihr wegzugehen, und sie in der Disco auf seine Anrufe nicht reagiert, unterstellt er ihr gleich einen Seitensprung. Jetzt ist sie beleidigt, weil ihr Freund sie offenbar für eine Nutte hält. Eine traurige, bittere Analyse des alltäglichen Scheiterns einer Beziehung: weder im wahren Leben noch in der Literatur eine Neuigkeit.

Ungewöhnlich dagegen sind die Metaphern, die dieser Comic für solche Phänomene findet, und vor allem die Art, diese Metaphern so zu erzählen, als wären sie gar keine: Da greifen Schattendämonen nach Wills Zunge und lassen ihn böse Worte sprechen. Da werden die Streitereien des Paares von kleinen, etwas ekelhaften Tierchen Namens Anuriden beobachtet, die immer dann blitzschnell verschwinden, wenn man sich zu ihnen hindreht. Da liegt das Skelett eines zweiköpfigen Kindes irgendwo am Straßenrand und harrt geduldig seiner Entdeckung.

›Was du nicht siehst‹ stammt aus der Feder von Autor und Zeichner Luke Pearson, der Comicgemeinde inzwischen wegen seiner viel gelobten und geliebten Kindercomicreihe ›Hilda‹ ein Begriff. In diesem kleinen Büchlein nun wendet sich Pearson an ein erwachsenes Publikum – mit der traurigen Botschaft, dass auch eine Welt voller versteckter, kleiner Wunder trostlos sein kann.

Schattenseiten eines magischen Kosmos

Wie das abgelegene Tal von Hilda ist auch hier die namenlose Kleinstadt von Pearsons Erzählung erfüllt von Magie und Rätseln: Bäume befreien sich aus dem Erdreich und tanzen. Riesen schwimmen vor der Küste im Meer und betrachten aufmerksam das Land, die Geister der Toten ziehen durch die Straßen und merkwürdige Außerirdische machen sich einen Sport daraus, Kometen auf die Erde zu schmeißen. Doch Pearson zeigt nun die Schattenseite der Medaille: Während die aufgeweckte, aufmerksame und fröhliche Hilda ihre Tage damit zubringt, diese Wunder zu entdecken und sich mit ihnen auf verschiedenste Weise auseinanderzusetzen, sind die erwachsenen Protagonisten dieser Geschichte zu beschäftigt mit ihren eigenen Problemen, als dass sie in der Lage wären, die ganzen Wunder wahrzunehmen, die um sie herum stattfinden. Im Gegenteil: Sie begreifen nicht einmal, dass es die Dämonen sind, die sie bestimmte Dinge Denken und Sagen lassen, mit denen sie die Menschen verletzen, nach deren Nähe sie sich doch eigentlich sehnen.

Abb: Reprodukt
Abb: Reprodukt
Pearson erzählt ein düsteres Märchen für Erwachsene mit den bewährten Mitteln eines Kindercomics, mit ganz ähnlichen Kreaturen und Metaphern. Sein Strich mag etwas rundlicher und damit weniger eigenwillig und etwas näher am Cartoon sein, doch im Wesentlichen haben sich nur die Farben geändert: Die Welt ist nicht mehr so bunt wie bei Hilda, sondern wird ausschließlich in Grau- und Brauntönen sowie mit einem gedeckten Orange erzählt, dem bereits die Energie zu einem glühenden Rot fehlt.

›Everything we miss‹ heißt der Comic im Original und drückt damit noch etwas besser aus, welchen Punkt Pearson mit der ganzen Geschichte macht: Was nützt uns eine Welt voller Rätsel und Geheimnisse und magischer Kreaturen, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, im entscheidenden Moment den Anruf, die E-Mail, den Blick quer durch einen Raum voller Menschen wahrzunehmen, der unser Leben retten könnte?
Wenn wir uns also von all der Melancholie dieser Erzählung nicht herunterziehen lassen, sondern doch von ihren zahlreichen poetischen kleinen Etüden etwas verzaubert zurückbleiben und bereit dazu sind, in der Welt nach Magie zu suchen – vielleicht sollten wir dann nicht nach Riesen und tanzenden Bäumen Ausschau halten, sondern in unserem Postfach nach jener SMS einer ganz bestimmten Person suchen, die noch immer Teil unseres Lebens sein möchte. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät …

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Luke Pearson: Was du nicht siehst
(Everything wie miss – aus dem Englischen von Heinrich Anders)
Berlin: Reprodukt 2014
40 Seiten, 14 Euro

Reinschauen
| Homepage von Luke Pearson

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Future Is Wow

Nächster Artikel

Angestelltenpolitik und politische Intrigen

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Selbstfindung im Anderswo

Comic | Cyril Pedrosa: Portugal In Portugal, Cyril Pedrosas neuem Comic-Prachtband, nimmt man an der Sinnkrise eines jungen Autors teil und begleitet ihn in die Heimat seiner Großeltern. CHRISTIAN NEUBERT war gerne mit ihm unterwegs.

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.

Straßenkinderkram

Comic | Max de Radiguès: Bastard Max de Radiguès erzählt in seinem Comic ›Bastard‹ von einem ungewöhnlichen Gangster-Pärchen: Eugene ist ein acht Jahre alter Bub, die junge May ist seine Mutter. Den Kofferraum voller Geld, sind sie auf der Flucht durch die US-Provinz, vor Cops und Komplizen. CHRISTIAN NEUBERT hat auf ihrem Beifahrersitz Platz genommen.

Coming of Age, State of the Art

Comic | Bastien Vivès: Eine Schwester Mit der Comic gewordenen Sommerromanze ›Eine Schwester‹ bezeugt der französische Comic-Nachwuchsstar Bastien Vivès erneut seine junge Meisterschaft als Zeichner und Erzähler. Von CHRISTIAN NEUBERT

Eine sehr langsame Form der Reportage

Comic Spezial | Comic-Journalismus Spätestens seit dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch (der in Wirklichkeit ziemlich gründlich und langsam arbeitete) verbinden wir mit einem Journalisten das Bild eines Mannes, der sich mit Notizblock und Kamera an Orten aufhält, wo wichtige Dinge passieren. Er kann aber auch mit Zeichenbrett und Skizzenblock ausgerüstet sein. Der 18. Internationale Comic Salon Erlangen warf ein Schlaglicht auf das Genre des Comic-Journalismus, das vor allem in den klassischen frankobelgischen und angelsächsischen Comicländern zu boomen scheint. ANDREAS ALT hat sich informiert.