Kinderbuch | Emily Hughes: Wild
Mit Riesenaugen und einem vergnügten Lächeln schaut einem das kleine Mädchen mit Blumen im Haar entgegen. ›Wild‹ lautet der Titel schlicht und ANDREA WANNER war neugierig, was sich dahinter verbirgt.
Ein kleines Mädchen wächst im Wald auf, großgezogen von den Tieren. Die Vögel bringen ihr das Sprechen bei, die Bären das Fische fangen und die Füchse das Spielen. Und so sind alle glücklich und zufrieden – bis eines Tages Menschen auftauchen, die natürlich nichts Besseres zu tun haben, als die Kleines zu retten. Aber den Wildfang aus der Natur in die Zivilisation zu bringen, sorgt für Probleme. Unlösbare Probleme. Und so entscheidet die Kleine am Ende selbst, was für sie und alle das Beste ist. Und das ist keine Lösung, die man sich so vorgestellt hätte.
»Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache«, sagte der Fuchs zum kleinen Prinzen von Antoine de Saint Exupéry und fährt fort: »Es bedeutet: sich vertraut machen«. So klingt das einleuchtend und positiv. Dass wilde Menschen gezähmt werden müssen und der Zustand der Wildheit keiner sein kann, in dem ein Mensch sein Leben verbringen kann, scheint Konsens zu sein. Vielleicht auch die Erwartung an ein Bilderbuch, das ein verwildertes Ding von den Tieren zu den Menschen bringt. Vorsicht mit solchen Vermutungen.
Emily Hughes gestaltet auf den ersten Seiten paradiesische Zustände. Sie nutzt die Doppelseiten für Szenen wie die hoch oben im Baum mit einem Himmel in zarten Pastelltönen und einem Rahmen aus grünen Blättern. Dort thront das Mädchen inmitten einer Vogelschar, die ihr zeigen, wie man spricht. Sie wirkt aufmerksam, konzentriert und fröhlich, lauscht dem »Kaaaa Kraaa Kaaa Kra« und spricht es nach. Oder die Szenen, in der sie mit den Bären in den Fluten eines reißenden Baches erfolgreich selbst Fische fängt. Mutter Bär bringt es ihren Bärenkindern bei, die Kleine macht einfach mit. Oder das ungestüme Spiel der Füchse, die sich zu einer einzigen Kugel im Fuchsbau zusammenraufen, mittendrin das Mädchen. Die Natur dominiert, die Kleine wirkt behütet und geborgen.
Die Wende kommt mit dem Auftauchen von etwas, das sie nicht kennt, und das sie als »neue Tiere« identifiziert. Konsequent wird diese Perspektive der Kleinen beibehalten. Das, was sie jetzt erleiden und erdulden muss, ist das Fremde, Unbekannte, das für sie keinen Sinn macht. Aus ihrer Sicht ist schlicht alles »falsch«: Der Versuch, ihre grünen Hare zu bändigen, ihr Kleider anzuziehen, ihre eine fremde Sprache beizubringen, sie zum Essen am Tisch mit Besteck zu zwingen, ihr Spielsachen zur Unterhaltungen zu geben. Mitleid mit ihrer Situation haben allenfalls Hund und Katze. Für die Erwachsenen, die sich um sie kümmern, ist sie ein Projekt, ein zu zähmendes Wesen. Und zähmen bedeutet, sie zu Dingen zu zwingen, die sie nicht kennt, die sie nicht will – und die sie unglücklich machen.
Auch dafür findet die Autorin und Illustratorin in ihrem ungewöhnlichen Debüt passende Bilder. Worte braucht sie dazu kaum, man sieht es, wie es der Kleinen in der neuen Umgebung geht: »Und sie verstand nichts und war unglücklich.« Unglücklich in einer Welt, die uns vertraut vorkommt und durch den Blick von außen nur ein wenig verzerrt wird und dadurch jegliche Heimeligkeit und Wärme, jegliche Attraktivität verliert. Vor allem gibt es nur unsympathische Menschen, die nörgelnd schauen, genervt, unzufrieden, missmutig mit ihren Ergebnissen, verbissen und wütend.
Und jetzt? Wer damit rechnet, dass endlich ein Retter naht, der die Situation durchschaut und sich so um die das Findelkind kümmert, wie es notwendig wäre, hofft vergebens. Das Ende der Geschichte ist kompromisslos, radikal – und für ein Bilderbuch mutig. Einfach so, wie man sich Bilderbücher wünscht.
Titelangaben
Emily Hughes: Wild
(Wild, 2013 – aus dem Englischen von Stephanie Menge)
Frankfurt: Sauerländer 2015
40 Seiten. 14,99 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren