Vertreibungen

Jugendbuch | Daniel Höra: Das Schicksal der Sterne

»Flucht« nennt man es, in Artikeln, in Berichten in Radio und Fernsehen, im Gespräch. »Flüchtlinge« heißen die Betroffenen, dabei flüchten sie meist gar nicht, sondern werden vertrieben. Daniel Höra, ein Jugendbuchautor, der sich sogenannter aktueller politischer Themen annimmt, hat sich in seinem neuesten Buch zu Vertriebenen gestern und heute geäußert. Von MAGALI HEISSLER

SterneAdib stammt aus Afghanistan. Sein Vater hat als Dolmetscher für Deutsche gearbeitet, weswegen er von »Taliban« ermordet wurde. Seine Frau und die Söhne fliehen, weil auch ihr Leben bedroht ist. Angewiesen sind sie auf Schlepper, Angehörige von Organisationen, die Geld damit verdienen, Menschen in Not illegal über so viele Grenzen und durch so viele Länder zu schleusen, wie das Geld reicht. Adib und seine Familie sind auf dem Weg nach Deutschland. Nach Umwegen erreichen sie tatsächlich Berlin, am Ende ihrer Kräfte.

Der fünfzehnjährigen Karl lebt in einem kleinen Städtchen im heutigen Polen, der Zweite Weltkrieg ist eben vorbei. Nun kommen die Folgen. Die bedeuten für Karl, seine Mutter und die kleine Schwester Zwangsumsiedlung nach Westen. Die Soldaten der Sowjetarmee sorgen dafür, dass die Betroffenen den langen Marsch auch antreten, plötzlich auftauchende Polen, die statt der Deutschen angesiedelt werden sollen, machen den Abwandernden zusätzlich das Leben schwer.

Doch auch unterwegs ist nichts leicht. Auch Deutsche untereinander sind nicht freundlich und tragen zum Flüchtlingselend bei. Blanke Not bringt Karl und seine Familie an den Rand ihrer Kräfte, mit viel Glück überleben sie. Allerdings nur, um im nächsten Elend zu landen, Flüchtlinge »aus dem Osten« sind im Westen Deutschlands nicht gut angesehen. Die Zeit hinterlässt Spuren, Karls Traumata tauchen wieder auf, als er ein alter Mann ist.

Parallelen

Höra baut seine Geschichte in zwei parallelen Strängen auf. Karls Flucht 1945 und Adibs Flucht in der Gegenwart zeigen sich so als sehr ähnlich. Eine Vertreibung bringt Leid, sagt Höras Geschichte, und das ist richtig. Höra konzentriert sich bei der Beschreibung der beiden Vertreibungen auf die umfassende Unordnung, in die die Betroffenen kopfüber gestürzt werden. Ihre Wehrlosigkeit, die materielle Not, aber auch die psychische stehen im Mittelpunkt. Gefordert wird an das Mitfühlen bei Leserinnen und Lesern.

Die Reduzierung auf das schreckliche Elend Vertriebener unterwegs ist allerdings problematisch. Ursachen, politische Entwicklungen, Gegebenheiten vor Ort, soziale und ökonomische Zusammenhänge verschwinden völlig. Für die Geschichte des Jahrs 1945 hat das unseligerweise zur Folge, dass aus Täterinnen und Tätern unterschiedslos Opfer werden. Durch die Parallelisierung der Erzählstränge werden zu dem die Soldaten der Roten Armee ungut mit Taliban und Schleppern in Beziehung gesetzt. Dazu kommt, dass die nationalsozialistisch beeinflussten Gedanken des fünfzehnjährigen Karl undiskutiert im Text stehen, slawische Grausamkeit etwa, wäre ein solcher Begriff.

Die Leserinnen müssen hier eine Denkleistung vollbringen, indem sie, ganz auf sich gestellt, aus dem etwas vage gehaltenen Kontext erschließen, dass es sich hier um rassistische Vorurteile handelt. Das ist gewagt angesichts des geringen Lesealters der Zielgruppe. Da die ganze Handlung darauf angelegt ist, überstarke Emotionen zu wecken, wird zusätzlich und unvorbereitet ein Sprung aus den hohen Wellen des Gefühls auf den Boden des Verstands verlangt, der junge Leserinnen in der Regel überfordern wird. Hier wäre eine klare Stellungnahme des Autors nötig gewesen.

Ähnlich verhält sich bei einem unvermuteten gedanklichen Angriff Adibs auf Tschetschenen im Asylantenheim, die angeblich aus reiner Überheblichkeit anderen Ärger machen. Das wird nur behauptet, andere Anhaltspunkte als diese Behauptung Adibs gibt es nicht. Ein solches Thema muss man illustrieren, wenn man es denn behandeln will, nicht nur in einem Satz anbehaupten. Auch hier werden eher Vorurteile bedient.

Sterne, Schicksal und was es so fürs Herz gibt

Als sich Karl und Adib treffen, ist der eine schon in einem Alter, dass er der Großvater des Jungen aus Afghanistan sein könnte. Über so viele Jahre hinweg hat sich nichts geändert, sagt die Geschichte, und auch das ist nicht ganz falsch. Ganz richtig ist es aber auch nicht. Zwar mussten auch die Menschen aus Schlesien, Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei mit heftiger Abwehr und dem Rassismus der Menschen, mit denen sie leben sollten, umgehen. Arbeitskräftemangel und die Herausforderung, ein Land nach dem Krieg wieder aufzubauen, trug in hohem Maß zur Integration bei.

Die Lage heute ist ganz anders. Höra löst das Problem, indem er Adib zu einem Mustermigranten macht. Der Junge lernt schon auf der Flucht eifrig deutsch. Er ist höflich, hilfsbereit, bescheiden, er brennt darauf, in die Schule zu gehen, eine wahre Seele von einem Fünfzehnjährigen. Gäbe es einen Orden für Integrationswillen, er gebührte ihm. Krank ist er auch, aber auf dem Weg der Besserung. Eigentlich ist er eine Gestalt aus einem Kitschroman des 19. Jahrhunderts. Klar, dass wir ihn lieben, klar, dass wir ihn vor Abschiebung retten. Wer so nett ist, hat das Deutschtum verdient. Die Szene bei der Ausländerbehörde, als sich Karl, ehemaliger Jurist, seine Nachbarin und seine Teenager-Enkelin Marie, Vegetarierin und auch sonst politisch korrekt bis zum Haarschnitt, für Adib einsetzen. Nein, da kann auch die zuständige Beamtin nicht mehr.

Statt politischer Zusammenhänge und lebensechter Figuren gibt es dazu die rührende Geschichte von Karls letzten Wochen, die wirklich schön erzählt sind, nur fragt man sich, wozu. Karl und Adib verstehen sich beim Betrachten der Sterne, Karl ist Amateur-Astronom, Adib sieht mehr die religiös-philosophische Seite, ganz der Naturmensch. Heimat, deine Sterne. Und die des Schicksals natürlich auch. Dass eine Art rettender Engel auftaucht, verwundert auch nicht mehr.

Damit dem Emotionenbrei auch keine Zutat fehlt, kommt es gegen Ende noch zu einem fingierten Bombenalarm. Wenn die Gefühle mal losgelassen sind, gibt es einfach kein Halten mehr.
Aus der interessanten Grundidee wird also insgesamt gesehen rasch eine Vertriebenen-Soap mit sehr hakeligen Stellen. Das mag Teenagerherzen aufs Beste rühren, trägt zum Thema aber zu wenig bei.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Daniel Höra: Das Schicksal der Sterne
München: bloomoon 2015
243 Seiten, 14,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren

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