Das Leben spielt sich anderswo ab

Liv Marit Weberg: Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich

Schüchtern sein ist eine Sache. Sich überhaupt nicht in die Welt und unter Menschen trauen, ist eine andere. Wie weit das gehen kann, erzählt Anne Lise. Von ANDREA WANNER

GlückMan ist als Leserin auf diese Geschichte nicht wirklich vorbereitet. Anne Lise, das verrät schon der Klappentext, ist in ihre erste eigene Wohnung gezogen, um in Oslo in Entwicklungspolitik zu studieren. Dann steht da noch »lustig, intelligent und ironisch« und sowohl »lustig« als auch »ironisch« kann man streichen. Die Geschichte beginnt mit dem Einzug, kommentiert von den Eltern, die ihre Tochter zu diesem besonderen Anlass beide begleiten, obwohl sie getrennt sind. Fremde Stadt, neuer Anfang. Für viele nicht leicht. Für Anne Lise schlicht nicht machbar.

Den Anschluss verpasst sie sofort und gründlich. Obwohl sie sich lange und intensiv auf das erste Treffen an der Uni vorbereitet hat – mit einem Spickzettel, der ihr in Sachen Small Talk auf die Sprünge helfen soll – findet sie nicht auf Anhieb das richtige Gebäude. Als sie dort ankommt, ist sie zehn Minuten zu spät und ihr fehlt der Mut, noch zu den Kommilitonen, die gerade mit Kennenlernspielen beschäftigt ist, zu stoßen. Was der Anfang ihres Studiums werden sollte, ist gleichzeitig das Ende: Anne Lise wird zu keiner Veranstaltung an der Uni mehr gehen.

Von da an geht’s bergab. Die aus Oslo stammende Autorin Liv Marit Weberg lässt ihre Ich-Erzählerin mit viel Sarkasmus in kurzen, knappen Sätzen berichten. Es geschieht nicht viel, da Anne Lise sich in ihrem »Schuhkarton«, wie sie die Miniwohnung bezeichnet, einigelt. Dass sie doch einen Jungen kennenlernt und mit ihm eine Beziehung eingeht, scheint fast unglaublich. Und lange geht es mit Tore auch nicht gut. Was genau Anne Lises Problem ist, ist nicht klar. Eine soziale Phobie? Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung? Hilfe hat sie jedenfalls keine. Isoliert lebt sie in ihrem Zimmer, der Blick aus dem Fenster ist ihre einzige Beschäftigung. Das Telefon klingelt nicht mehr und für ihre Ausflüge nach draußen zu m Lebensmitteleinkauf, sucht sie Tarnkleidung. Über ihr eigenes Dasein sagt sie »Ich befinde mich im Herbst des Lebens. Und so wird es immer sein.« Trostloser geht’s nicht.

Warum ausgerechnet dieses Buch ein Cover haben muss, das eine glückliche Wende suggeriert, bleibt unklar. Rosarote Blümchentapete und Windrädchen sind von der Realität dieser jungen Frau meilenweit entfernt. Aber es ändert sich trotzdem etwas, denn Anne Lise geht das Geld aus. Als aufgeflogen ist, dass sie gar nicht studiert, haben ihr die Eltern den Geldhahn zugedreht. Was folgen muss, ist ein erster zaghafter Schritt ins das wahre Leben – auch wenn der ähnlich merkwürdig abläuft wie ihr bisheriges.

Dann ist das Buch zu Ende. Es gibt einen neuen Jungen in ihrem Leben und jede Menge Ratten. Mit den Tieren kommt Anne Lise auf jeden Fall besser klar als mit Menschen. Ein Ortswechsel steht bevor. Ob man sich ganz vorsichtig Hoffnung machen darf, dass es besser wird? Mit einer gewissen Ratlosigkeit wünscht man es ihr zumindest.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Liv Marit Weberg: Zum Glück bemerkt mich niemand … dachte ich
(Jeg blir heldigvis ikke lagt merke til, 2014
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Frankfurt: Sauerländer 2015
224 Seiten, 12,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Konstanten (4)

Nächster Artikel

Erzähllust

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Nervensache

Jugendbuch | Johannes Groschupf: Der Zorn des Lammes Die ersten Schritte ins Erwachsenenleben sind nicht unbedingt leicht, besonders, wenn man ein Trauma aus der Kindheit mit sich herumträgt. Wenn unter den ersten Schritten dann noch ein böse falscher ist, wird es mehr als ernst. Die Heldin in Johannes Groschupfs zweitem Thriller für Jugendliche ›Der Zorn des Lammes‹ muss auf unangenehme Weise erfahren, dass Überleben Nervensache ist. Von MAGALI HEISSLER

Bologna im Frühling

Kinderbuch | Jugendbuch 53. Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse Bologna Atmosphärische, klare, pfiffige und kinderlogikschräge Texte und Illustrationen. Ein Gang über die 53. Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse Bologna, mit Deutschland als Gastland. Von SUSANNE MARSCHALL und GEORG PATZER

Was hinter der Schokoladentafel steckt

Jugendbuch | Tara Sullivan: The Bitter Side of Sweet

Der 15jährige Amadou und sein 8jähriger Bruder Seydou haben keine Ahnung, wozu die Kakaobohnen diesen, die sie seit zwei Jahren auf einer Plantage in Côte d’Ivoire unter entsetzlichen Bedingungen ernten. Ihr Leben ist ein einziger Albtraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Von ANDREA WANNER

Körper- und andere Bilder

Jugendbuch | Stefanie Höfler: Tanz der Tiefseequalle

Wie jemand aussieht, ist nicht wichtig. Was zählt, sind die inneren Werte. Schöne Theorie, der Alltag sieht anders aus. Stefanie Höfler rückt ebenso vehement wie elegant Schein und Sein zurecht. Von MAGALI HEISSLER

Schwebezustand

Jugendbuch | Patrycja Spychalski: Ich würde dich so gerne küssen Flirt, Verliebtheit, Liebe, wer weiß schon so genau, wo das eine anfängt, aufhört und das andere beginnt. Im Handumdrehen ist man hineingerutscht in dieses Gewirr aus mehr oder weniger fassbaren Gefühlen für einen anderen Menschen. Es ist Spielerei und Spiel, plötzlich ganz realistisch, im nächsten Augenblick flüchtig wie ein Windhauch. Manchmal wünscht man sich, der ungewisse Zustand möge für immer anhalten, manchmal will man Entscheidungen und klare Verhältnisse. In ihrem ersten Roman Ich würde dich so gerne küssen versucht Patrycia Spychalski eben diesen Zustand zwischen Träumen und Wachen zu beschreiben.