/

Aufbruch und sinnliche Ekstase

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clézio

 
Als Jean-Marie-Gustave Le Clézio im Oktober 2008 völlig überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, rühmte ihn die Stockholmer Akademie als »Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase – ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.« Die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit reagierte damals mit Unverständnis. Marcel Reich-Ranicki erklärte, dass er den Autor nicht kenne, Sigrid Löffler bezeichnete die Jury-Entscheidung als »bizarr«. Von PETER MOHR

Foto: J.M.G. Le Clézio 2008 / Prolineserver / GFDL 1.2
Foto: J.M.G. Le Clézio 2008 / Prolineserver / GFDL 1.2
In einer ebensolchen, leicht exotisch anmutenden Sphäre sind auch die neun Erzählungen seines letzten in deutscher Übersetzung erschienenen Bandes (›Der Yama-Baum‹, 2013) angesiedelt – Le Clézios erste Veröffentlichung nach dem Nobelpreis, die er mit einem 15-seitigen ›approximativen Apolog‹ angereichert hat, in dem er über seine eigene Rolle als Autor philosophiert. 
Als junger Mann hatte Le Clézio mit gerade einmal 23 Jahren einen furiosen Einstieg in die Literaturszene gefeiert, mit seinem 1963 erschienenen Debütwerk ›Procès-verbal‹ (Das Protokoll) – eine breit angelegte Protestschrift sowohl gegen die zeitgenössische Literatur als auch die Politik, die später mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet wurde.

Le Clézios Werk wird nicht unwesentlich durch eine gehörige Prise Exotik getragen, von seiner Sehnsucht nach der Fremde und seiner Affinität zum einfachen, beinahe archaischen Leben. Kein Wunder bei dieser von großer Internationalität geprägten Vita.

JMG Le Clézio wurde am 13. April 1940 in Nizza als Sohn eines aus Mauritius stammenden Tropenarztes und einer Engländerin geboren. Seinen Vater lernte er allerdings erst im Alter von sieben Jahren kennen, als er mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder nach Nigeria und Kamerun reiste. Der mit einer Mauretanierin verheiratete Nobelpreisträger studierte später Literaturwissenschaften, war nach dem Studium als Lektor in Bristol, London und Aix-en-Provence tätig und lebte viele Jahre in Mexiko und Nordamerika.

Mehr als drei Dutzend Bücher, die alle Stilrichtungen abdecken, liegen inzwischen vor. In den 1960er-Jahren bevorzugte er experimentierfreudige Mischformen wie in ›Terra amata‹ (1967), danach stand bei ihm die Auseinandersetzung mit Mythen afrikanischer und indianischer Kulturen (unter anderem ›Trois villes saintes‹, 1980) hoch im Kurs, und es folgte eine Phase, in der er sich seiner zwischenzeitlichen Wahlheimat Mexico ausgiebig widmete, in ›Der mexikanische Traum‹ (1989) und ›Diego und Frida‹ (1995) – eine erzählerische Hommage an die Malerin Frida Kahlo.
»Literatur ist auch ein Mittel, um die Bedeutungslosigkeit von ›Fremdheit‹ zu verstehen«, hat Le Clézio einmal sein dichterisches Credo als »Brückenbauer« beschrieben. Dementsprechend neugierig und forschend reist er weiter um die Welt, verbunden mit dem Bestreben, Schriftstellerkollegen an unterschiedlichen Orten kennenlernen zu wollen.

Im Gegensatz zu den Übervätern der französischen Nachkriegsliteratur, Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die seine Generation prägten, schätzt Le Clézio die öffentliche Wirkung von Schriftstellern eher gering ein: »Als Schriftsteller muss man bescheiden sein, man schreibt nur Erzählungen, man erzählt nur Geschichten, aber die Welt verändern wird man nicht.« Als der Franzose vor 15 Jahren seine erste Lesereise durch Deutschland antrat, erlebte das Publikum einen sanften, leicht versponnen wirkenden, aber immer freundlichen Zeitgenossen.

In jüngerer Vergangenheit hat sich Le Clézio literarisch verstärkt seinem eigenen Leben und dem seiner Familienmitglieder gewidmet – angefangen mit dem 1991 erschienenen ›Onitsha‹, das von der Reise eines Jungen berichtet, der in Afrika seinen Vater kennenlernen will. Nach den erzählerischen Porträts seines Großvaters in ›Der Goldsucher‹ und seines Vaters in ›Der Afrikaner‹ widmete sich Le Clézio in seinem jüngsten Roman dem Lebensweg seiner Mutter, die zweifelsfrei für die Figur der Protagonistin Ethel Brun in ›Lied vom Hunger‹ (2009) Pate stand. Nach Erscheinen der Originalausgabe im Jahr 2008 rangierte dieser Roman in Frankreich wochenlang ganz oben auf den Bestsellerlisten. »Ich habe diese Geschichte im Gedenken an eine junge Frau geschrieben, die ungewollt mit zwanzig Jahren eine Heldin war«, heißt es auf der letzten Seite des Buches, mit dem er seiner Mutter ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt hat.

| PETER MOHR
 
Lesetipp
J.M.G. Le Clézio: Der Yama-Baum und andere Geschichten
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2013
359 Seiten, 19,99 Euro
| Der Yama-Baum – im TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ist die Katze aus dem Haus…

Nächster Artikel

Worauf es ankommt

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Chronist des Schreckens

Menschen | Zum 125. Geburtstag des Autors Theodor Plievier Der Name Theodor Plievier und sein 1945 erschienener Roman ›Stalingrad‹ werden in der deutschen Literaturgeschichte nahezu als Synonyme behandelt. Dieser vehemente Anti-Kriegsroman wurde in 30 Sprachen übersetzt, erreichte Millionenauflagen und brachte seinem Autor ungeheure Popularität ein. PETER MOHR zum 125. Geburtstag von ›Stalingrad‹-Autor Theodor Plievier am 12. Februar

Eigensinnig und offen

Menschen | Zum Tod von Friedrich Christian Delius

Mit zunehmendem Alter schien sein künstlerischer Blick immer weiter zurückzuschweifen. Eine Sekretärin aus den 1960er Jahren stand im Mittelpunkt von Friedrich Christian Delius' letztem Roman ›Die Liebesgeschichtenerzählerin‹ (2016). Auch die stark autobiografische Erzählung ›Die Zukunft der Schönheit‹ (2018) war in der gleichen Zeit angesiedelt und erzählte von einem jungen Mann aus der hessischen Provinz und dessen musikalischem Erweckungserlebnis in einem New Yorker Jazzclub. Melancholie hatte Einzug gehalten in das Werk des einstigen »Rebellen«. Von PETER MOHR

Heimat in der Kunst

Menschen | Zum 90. Geburtstag von Günter Kunert Der bedeutende Lyriker Günter Kunert ist eher selten als Erzähler in Erscheinung getreten. Umso größer war die Überraschung, als ein (längst vergessenes) Romanmanuskript aus den 1970er Jahren auftauchte und nun – unbearbeitet – veröffentlicht wurde. Von PETER MOHR

»Some Time in New York City«

Menschen | Zum 40. Todestag von John Lennon

Es gibt eine Flut von Büchern über sein Leben und die Musik der Beatles. Doch wie steht es um John Lennons exzeptionelles musikalisches Werk als Solokünstler, das er von 1969 bis kurz vor seinem Tode schuf? »Er war ein einfacher, komplizierter Mensch«, sagte seine Witwe Yoko Ono einmal über ihren Gemahl. Ohne ihn hätte es die Beatles nicht gegeben, ohne ihn hätte »ihnen die Eindringlichkeit, das Gewissen und die Originalität gefehlt«, schreibt sein Biograph Ray Coleman, der achtzehn Jahre lang mit ihm bekannt war und davon überzeugt ist, dass »niemand vollständig in ihn hineinblicken« konnte. Über ein halbes Jahrhundert ist seit der Trennung der Beatles vergangen, vierzig Jahre seit seinem Tod. Zwei neue Bücher beschäftigen sich mit Leben und Werk des legendären Musikers aus unterschiedlichen Perspektiven. Von DIETER KALTWASSER