Comic | Turf (Zeichnungen und Text): Das Narrenschiff
Die skurrile Comicreihe ›Das Narrenschiff‹ lief in Deutschland eher unter dem Motto »Geheimtipp«. Dabei hätte sie dank aberwitziger Einfälle und fabelhafter Zeichnungen das Zeug zum Kult gehabt. Vielleicht ändert sich dank der bei Splitter erschienenen Gesamtausgabe daran noch etwas. BORIS KUNZ musste staunen, was Comicfans mit dieser Serie bislang alles entgangen ist.
Passend zu ihrem Titel hat Turfs Comicserie einen in Deutschland keinesfalls unüblichen Schlingerkurs hinter sich: Nachdem die ersten Bände vor nun bald 20 Jahren im alten Splitterverlag erschienen sind, gab es mit Band 4 einen Wechsel zu Kult Editionen, wo die insgesamt aus sieben Kapiteln und einer nachträglichen »Origin-Story« bestehende Reihe jedoch auch nicht bis zu ihrem glorreichen Ende 2009 fortgesetzt wurde. Jetzt liegt das Werk endlich komplett auf Deutsch vor, in einer wuchtigen, großformatigen, 400 Seiten starken Gesamtausgabe, die zwar schwer in der Hand liegt, für deren Lektüre man allerdings ruhig schmerzende Handgelenke in Kauf nehmen kann.
»Das ist unmöglich. Vögel können nicht fliegen. So sagen es die Schriften.«
Erzählt wird eine Geschichte aus dem Königreich Irrwater, dessen überschaubare Größe (das Reich scheint nur aus einer Stadt und ein paar umliegenden Feldern zu bestehen) in diametralem Gegensatz zu seinem gigantischen, märchenhaften Königspalast steht, in dessen endlosen Gemächern der kleine König Clément XVII in seinem rot-weiß gestreiften Pyjama regiert. Was der weißbärtige Monarch nicht ahnt: Ausgerechnet sein engster Mitarbeiter, der »grosse Koordinator« Ambroise, ist im Verborgenen dabei, einen Staatsstreich anzuzetteln. Immerhin ist Ambroise eingeweiht in das große Geheimnis von Irrwater, von dem nicht einmal der König etwas ahnt. Dieses Geheimnis ist der Schlüssel zu so manchem kuriosen Phänomen, wie dem Regen in den königlichen Gemächern, den Monstern, die in der Stadt aus den geplatzten Wasserrohren kriechen, oder dem Riss, der den monumentalen Palast eines Tages in zwei Hälften teilt. Und Ambroise hat es satt, als bestinformierter Mann im Königreich immer nur die zweite Geige unter lauter Idioten zu spielen.
Während schließlich erst der König und anschließend sämtliche ebenfalls weißbärtigen Minister im feuchten Kerker landen, verschlägt es in den Wirren des Staatsstreichs seine Tochter, die eigenwillige Prinzessin Chlorenthe, durch eine Falltür in eine archaische Parallelwelt, wo andere Naturgesetzte zu gelten scheinen und Vögel fliegen können. Während der Hofnarr Arthur seiner geliebten Prinzessin zu Hilfe eilt, die in die Gefangenschaft affenartiger Kreaturen gerät, stoßen in der Hauptstadt von Irrwater zwei eher mäßig begabte Polizisten auf einen ausgedehnten Kürbisschmuggel und kommen auf diese Weise nach und nach nicht nur dem Staatsstreich sondern auch einigen anderen seltsamen Vorgängen in Irrwater auf die Spur.
Eine Welt wie im Comic

Visuell erinnert Turfs Artwork stark an die zeitgleich erschienene Reihe ›Mit Mantel und Degen‹ seines Kollegen Jean-Luc Masbou, dem man ebenfalls seine Lehrjahre in einem Zeichentrickstudio ansieht: Die Figuren sind in ihren körperlichen Eigenheiten oftmals übersteigert (große Nasen, abstehende Haare, extreme Körpergröße). Die Tuschelinien geben ihnen klare Konturen. Und die sehr detailreiche Kolorierung dagegen verleiht ihren Cartoon-Körpern Plastizität. Auch in den liebevoll gestalteten Settings, die in ihrem Detail- und Einfallsreichtum so manchem Zeichentrickfilm die Schamesröte ins Gesicht treiben müssten, gilt dieses Prinzip: Es ist vor allem die aufwendige Farbgebung und die gelungene Mischung aus getuschtem Vordergrund und aquarelliertem Hintergrund, die den Seiten eine eigene Dimension verleiht. Zusätzlich experimentiert Turf immer wieder mit Blickwinkeln und Seitenaufteilungen, mit POV-Sequenzen, eingeschränktem Sichtfeld, mit großen Panaromabildern, mit Querschnitten durch Gebäude, kurz: Mit allen möglichen Mitteln, die das Medium zu bieten hat, ohne ins Chaotisch-Expressive abzudriften.

Turf lässt sich viel Zeit damit, die aberwitzigen Abenteuer seiner äußerst gesprächigen Figuren über viele Seiten auszubreiten. Er tut dies mit so viel schalkhafter Freude, dass seine Reihe niemals langweilig wird. Der (durchaus auch vorhandene) große erzählerische Bogen ist ihm dabei allerdings weniger wichtig als das Aufeinanderfolgen absurder Begegnungen und die aufwendige Gestaltung wunderschöner Comicseiten. Nicht jeder Leser wird sich mit dem eigenwilligen Humor anfreunden können – wie eben nicht jeder Mensch die Filme von z.B. Terry Gilliam mag. Trotzdem hat dieser Sammelband das Zeug dazu, ein Lieblingsobjekt von Comicfans zu werden. Schade ist eigentlich nur, dass das kuriose Geheimnis von Irrwater, das über 300 Seiten langsam und stufenweise aufgebaut und erst ganz am Ende komplett enthüllt wird, auf dem rückwärtigen Klappentext schon vorweggenommen ist.
Titelangaben
Turf (Zeichnungen und Text): Das Narrenschiff
(La Nef des Fous: Intérgale)
Aus dem Französischen von Tanja Krämling, Uwe Löhmann, Swantje Baumgart u.A.
Bielefeld: Splitter Verlag 2015
400 Seiten, 49,80 Euro
Reinschauen
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