Film Spezial | Japanisches Filmfest Hamburg 2015 – Interview
Das JFFH ›Japan-Filmfest Hamburg‹ geht in sein sechzehntes Jahr und zeigt uns auch diesmal wieder einen Querschnitt von Genres aus einem Land, das eine sehr eigenständige Filmkultur pflegt. WOLF SENFF sprach mit Marald Milling und Denis Scheither, den Organisatoren des Festivals.
Ein wenig überrascht es schon, daß der allseits bekannte ›Nils Holgersson‹ eine österreichisch-deutsch-japanische Ko-Produktion ist und dass diese Zusammenhänge in Deutschland gar nicht bewusst und letztlich reichlich egal sind. ›Nils Holgersson‹ wurde hierzulande auch nie als ›Anime‹ angekündigt, wir lieben unseren ›Zeichentrickfilm‹. Doch der hat in Japan als Anime-Film einen ganz anderen Stellenwert.
Denis: Viele von uns sind mit Zeichentrickfilmen aufgewachsen, die aus Japan stammen, beispielsweise ›Biene Maja‹, ›Nils Holgersson‹, ›Captain Future‹, ›Saber Rider‹, da gibt es etliche, die auch im Fernsehen liefen, ›Kimba der weiße Löwe‹ von Ozamu Tezuka, mit denen viele das Thema Japan gar nicht verbinden. Diese Filme zielten auf ein jüngeres Publikum, vor allem Kinder. Deshalb verbinden viele auch noch mit dem Anime das Thema Kinderzeichentrickfilm.
Das hat sich bei uns jahrzehntelang so eingebürgert.
Anime als originäres Genre Japans
Marald: Was in Japan gar nicht so ist, da gibt es Comics, Mangas, Anime für Jung und Alt, also auch Filme, die gar nicht für Kinder geeignet sind. Damit meine ich jetzt nicht nur Erotik-Themen, sondern auch andere, also auch ernste Themen, die Kinder nicht interessieren.
Gibt es denn Versuche zu erklären, weshalb diese, wie wir hier noch sagen, Zeichentrickfilme in Japan so unglaublich populär sind, die ja hier überwiegend als Nachmittagsfilmangebot für Kinder existieren?
Denis: Ich weiß zu wenig über die Vorgeschichte, um dazu etwas sagen zu können, wie das historisch entstand, aber auch in der japanischen Kunst war es immer so, daß gar nicht so sehr die fotorealistischen Gemälde hoch angesehen waren. Berühmt sind die Tusche-Zeichnungen sowie die Malerei und Farbholzschnitte des Ukiyo-e, zu denen auch das berühmte Bild ›Die große Welle vor Kanagawa‹ von Katsushika Hokusai zählt.
Marald: Teilweise gelangten Zeichnungen sogar als Verpackungsmaterial nach Europa, sie wurden als Schutz, damit das wertvolle Porzellan nicht brach, in die Tassen geknüllt. Dadurch gelangten japanische Drucke eher zufällig nach Europa und sorgen für Furore. Von den Drucken von Hokusai, seinen berühmten Ansichten des Fuji etwa, heißt es, sie seien auf diese Weise nach Europa gelangt.
Die spezielle Manga-Kultur bildete sich dann sehr viel später vor allem unter unter europäischem und amerikanischem Einfluss heraus?
Einflüsse aus USA und Europa
Marald: Ursprünglich ist das so: Die amerikanischen Cartoons, Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen, wurden in Japan während der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts populär. Schon vor dem 1. Weltkrieg hatten die japanischen Zeichner das aufgegriffen und entwickelten nach amerikanischem Vorbild eigene Cartoon-Serien, und das wurde so erfolgreich, dass sie eigens Magazine etablierten, in denen Cartoons in Fortsetzungen erschienen. Das waren jedoch noch nicht die heutigen Manga, sondern kurze Episoden im Stil des amerikanischen Cartoon. Das hat sich dann aber in relativ kurzer Zeit verselbständigt.
Das beschreibt die Bedeutung der Mangas vor ihrem historischem Hintergrund. Sie sind in Japan ein sehr wichtiges, populäres künstlerisches Medium. Und genau deshalb reden wir ja hier über sie, weil sie als Anime, die filmische Variante des Manga, auf dem bevorstehenden Japan- Filmfest im Mittelpunkt stehen werden.
Manga-Conventions und die Fangemeinde
Denis: Wir haben uns dieses Jahr dafür entschieden, dass wir einen Anime-Schwerpunkt setzen,weil wir wissen, daß besonders das jüngere Publikum von Anime fasziniert ist. Für Animationsfilme aus Japan gibt es eine wachsende Fan-Basis in Deutschland, die genau das sehen will. Die Manga-Conventions hier in Deutschland haben großen Zustrom, und wir richten uns dieses Jahr speziell an den Teil unseres Publikums, der schon seit Jahren einen stärkeren Fokus auf Anime-Filme und -Serien auf dem Japan-Filmfest Hamburg wünscht.
Für all diejenigen, die sich noch nicht zu dieser Fangemeinde zählen: Manga-Convention?
Denis: Da handelt es sich um mehrtägige Treffen, meistens sind sie kommerziell ausgerichtet, und entsprechend geht es dort ausschließlich um Anime, Manga und was damit zu tun hat, also etwa das sogenannte Cosplay, d.h. dass man sich wie seine Lieblingscharaktere kleidet, zurechtmacht, oft werden Cosplay-Wettbewerbe veranstaltet. Die aktuelle japanische Spiele-Szene, Brettspiele, aber auch Nintendo & Co., also die Computerspiele, ist meistens ein Mix aus diesen Bereichen Anime/Manga, Cosplay und japanischer (Pop-)Musik.
Ist es nicht verrückt, wie sich solche Kulturen sozusagen ausbreiten, beinahe subversiv in eine Generation?
Ein Panorama japanischen Filmschaffens
Denis: Es läge ja auch nahe zu sagen, dass wir, wenn Japan durch Samurai-Filme und durch Anime hier so bekannt und beliebt ist, uns jedes Jahr auf diese Genres einschießen sollten, um erfolgreich zu sein. Doch wir wollen ein breites Spektrum anbieten, wir wollen auch Nischenbereiche, auch studentische Filme, aber eben jedes Jahr ein neues Motto, einen neuen Schwerpunkt. Vergangenes Jahr hatten wir studentische Filme aus Osaka, der Partnerstadt Hamburgs, davor japanische Historien- und Schwertkampffilme, kurz gesagt das Thema Samurai.
Diesmal sind wieder Samurai-Filme im Programm.
Marald: Allein schon durch die Trilogie Rurouni Kenshin, deren ersten Teil wir bereits vor zwei Jahren im Programm unseres Festivals hatten, und die Trilogie wird selbstverständlich ebenso erfolgreich laufen, das wird ein volles Haus geben. Wir arbeiten auch 2015 wieder mit unserem Hauptkino Metropolis, mit dem 3001 und dem Studio-Kino.
Dem Programm zufolge ist ein breites Unterhaltungsangebot vorgesehen. Gibt es darin sozialkritische und politische Akzentuierungen?
Dokumentarfilm
Marald: Wir achten nicht an erster Stelle auf eine korrekt ausgewogene Mischung. Zunächst einmal ist uns pure Unterhaltung wichtig, weil wir unsere Fans bedienen wollen, die genau das von uns erwarten. Selbstverständlich werden aber die eher kritischen Arthouse-Filme dabei nicht vernachlässigt, sie haben generell ihren Platz in unserem Programmangebot.
Stichwort Dokumentarfilm?
Marald: In den erwähnten politischen Kontext gehören dieses Jahr mit Sicherheit zwei Dokumentarfilme. Gerade jetzt im siebzigsten Jahr des Abwurfs der Bombe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. August zeigen wir Takashi Kunimotos ›Meine Reise mit den Atombombenüberlebenden‹, und wir haben einen zweiten Dokumentarfilm ›Love Hotel‹ (von Philip Cox und Hiraku Toda), der einen Blick auf soziale Realität wirft und in den allgemein beengten Wohnverhältnissen in japanischen Metropolen einen Weg bzw. Ausweg für Intimität zeigt, eine Möglichkeit, für vielleicht eine Stunde unbehelligt von Familie oder dem Lärm des Nachbarn zu zweit zu sein. Diese »Love Hotels« waren bis vor kurzem fester Bestandteil japanischen Alltags.
Weltflucht? Spiegel der Gesellschaft?
Denis: Vielleicht ist dieses Phänomen ein Symptom für den Bedarf nach anderen Welten, Phantasiewelten ähnlich der des Cosplay, das sich zum Exportschlager entwickelt hat und zeigt, dass der Mensch eben den Rückzugsort braucht, und wenn dieser Ort räumlich nicht verfügbar ist, hat man ihn wenigstens im Kopf und demonstriert ihn zumindest durch sein äußeres Erscheinungsbild. Viele Japaner sagen ganz offen, dass ihr Chef keinesfalls wissen dürfe, dass sie jetzt und hier so verkleidet herumlaufen, so geschminkt, und es gibt höchst originelle Verkleidungen. Was man da in Tokyo an schrägen Kostümierungen sieht, hat Seltenheitswert.
Den Bedarf nach anderen Welten bedient auch Science Fiction. Also Film als ein Medium, mithilfe dessen sich die Gesellschaft einen Spiegel vorhält?
Marald: Science Fiction ist längst Thema der Manga- und Anime-Szene, man denke an ›Ghost in the Shell‹ (Mamoru Oshii, 1995) oder ›Astro Boy‹ in den 1960ern, dessen Schöpfer Osamu Tezuka sozusagen der Gott des japanischen Manga war, der dessen langanhaltenden und dauerhaften Erfolg in die Wege leitete, indem er alle Spektren und Themenbereiche besetzte, vom Kinder- bis zum Erwachsenencomic, eben auch Science Fiction, die unterschiedlichsten Themen in seinem Gesamtwerk.
In Japan etablierten sich dann diverse Studios, in denen die Anime-Filme produziert wurden.
Unterhaltung plus Nischenprodukte
Marald: Das Mitte der achtziger Jahre gegründete und von Hayao Miyasaki und Isao Takahata geleitete Studio Ghibli hob den Anime-Film auf eine weitere Stufe kommerziellen Erfolgs, es entstanden Meisterwerke der Animation, etwa ›Das Schloss im Himmel‹ (1986), ›Mein Nachbar Totulo‹ (1988), ›Prinzessin Mononoke‹ (1997), ›Das wandelnde Schloß‹ (2004), jede Menge Beispiele für den Erfolg der Anime-Produktionen. Der endgültige internationale Durchbruch gelang mit ›Chihiros Reise ins Zauberland‹ (2001).
Ihr Festival, das Japan-Filmfest, das sechzehnte mittlerweile, bietet dem Besucher erstens eine Fülle von Filmen und damit zweitens ein quasi repräsentatives Konzentrat japanischen Filmschaffens?
Denis: Stimmt, genau das. Wir wollen zeigen, was der japanische Film anzubieten vermag, Schwerpunkt Unterhaltungssektor. Unser Angebot ist mehr als das, was den deutschen Markt per Video erreicht; der japanische Film hat Nischenprodukte, die normalerweise Mitteleuropa nicht erreichen, die Wahrnehmung des japanischen Films ist in Deutschland eher verzerrt, man kennt den Zombie, den Samuraifilm, klar, die zeigen wir natürlich auch. Der deutsche Markt bildet lückenhaft ab, und genau diese Lücken schließen wir mit unserem Festival-Angebot. Herzlich willkommen beim 16. Japan-Filmfest in Hamburg.
| WOLF SENFF