Kinder- und Jugendbücher | Buchmarkt in Russland – 7. Berliner Bücherinseln vom 28. Mai bis zum 12. Juni
Wie spannend, farbig, originell es auf dem Kinderbuchmarkt in Russland heute zugeht, erzählten Olga Maeots, Leiterin der Kinderbuchabteilung der M.I. Rudomino-Bibliothek für fremdsprachige Literatur und die beiden Verlegerinnen Tanya Kormer und Ksenia Kovalenko, alle drei aus Moskau, anlässlich einer Veranstaltung der 7. Berliner Bücherinseln vom 28. Mai bis zum 12. Juni, die in diesem Jahr Buch und Lesen in Russland zum zentralen Thema hat. Von MAGALI HEISSLER
Berechtigter Stolz auf eine solide Tradition der Kinderbuchpublikation, Überzeugung von der Wichtigkeit literarischer Qualität und eine Vielzahl talentierter Erzählerinnen, Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren sind die Grundlage für profundes Selbstbewusstsein und wunderbaren Enthusiasmus all derer, denen das Kinder – und Jugendbuch in Russland ein Anliegen ist, das war schon nach den ersten Sätzen klar.
Bei der Erwähnung des ältesten, staatlichen Kinderbuchverlags, Detgiz (gegr. 1932) bekamen die Vortragenden umgehend glänzende Augen, Mainstreampublikationen, Propaganda und Seichtes in Mengen ungeachtet. Die guten und sehr guten Kinderbücher, die es von Detgiz auch immer gab, sind etwas, die man offenbar nie vergisst. Immerhin gilt als Kinderliteratur alles bis zum Lesealter von ca. 14 Jahren. Viele, viele Sachbücher, bis heute ein Schwerpunkt auf dem Kinderbuchmarkt, der etwas kleinere Anteil Erzählendes. Darunter etwas, das für hiesige Ohren fremd anmutet, nämlich Lyrik für Kinder und Jugendliche. Heute ist sie immer noch wichtig, darauf legte Olga Maeots Wert. Lyrik wird für diese Altersgruppe unverändert geschrieben und veröffentlicht. Natürlich ist literarische Qualität das Gebot, kein kindisches Gereime. Ein bisschen neidisch kann man werden, wenn man das hört.
Nach einer Überflutung mit Mainstreamtiteln durch Großverlage US-amerikanischer Prägung und Wirtschaftskrisen nach dem Untergang der Sowjetunion begann der Kinderbuchmarkt Anfang des neuen Jahrtausends noch einmal neu. ›Samokat‹, dessen Mitbegründerin die Buchillustratorin Tanya Kormer ist, ist einer der wenigen Verlage, die die hektischen Gründerjahre und die Krisen 2006 und 2008 überstanden hat. Gegründet 2003 ist Samokat heute einer der wichtigsten unabhängigen Kinderbuchverlage.
In den Jahren seit Beginn des Jahrtausends wurde auch deutlich, dass etwas fehlt, spezifische Literatur für Jugendliche nämlich. Jugendliche ab ca. vierzehn griffen bis dahin zu den Büchern, die auch Erwachsene lasen. Allerdings gab es Lückenfüller, das war die sehr reiche Fantasy – und Science-Fiction Literatur. Das hat sich nun geändert, in vielen neuen Titeln wird angesprochen, was Jugendliche bewegt. Liebe, Konflikte mit Eltern, Zukunftsängste, Krieg, Umweltzerstörung, die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Unseligerweise stehen einer öffentlichen Diskussion solcher Themen seit wenigen Jahren neue Jugendschutzgesetze entgegen.
A clear hunger for such information
Die Bestimmungen zum Kinder– und Jugendschutz bringen nicht nur Autorinnen, Illustratoren und Verlagen Probleme, sondern auch Buchhandlungen und Bibliotheken, Lehrerinnen und Lehrern, ja, jeder Art Veranstaltung zu Kinder– und Jugendbüchern. Verräterisch sind schon Altersangaben. Statt des hierzulande vertrauten Mindestalters müssen russische Bücher Verbotsangaben tragen. Nicht unter acht Jahren, nicht unter zwölf, vierzehn. Das muss eingehalten werden, auch von Buchhandlungen. Streng genommen muss ein beträchtlicher räumlicher Abstand zwischen den entsprechenden Regalen liegen, bis zu einhundert Metern. Man stelle sich die Dimensionen vor, wenn eine Buchhandlung, eine Bibliothek entsprechend umrüsten würde.
Man reagiert erfindungsreich. Manche Verlage verkaufen Jugendbücher mit einem weißen Schutzumschlag über dem farbigen, jugendgerechten Cover. Das ist der neutrale Umschlag für Eltern. Sie sollen das Buch zuerst lesen und dann entscheiden, ob sie es ihren Kindern in die Hand geben möchten. Man hört es, staunt, fragt nach und es stimmt immer noch.
Weder die Verlegerinnen noch Bibliothekarinnen lassen sich abschrecken. »There is a clear hunger for such information«, erklärt Maeots mit Nachdruck.
Die Reaktionen von jungen Leserinnen und Lesern via Twitter, Facebook und Blogs gibt ihr Recht. Es herrscht eine rege öffentliche Diskussion über die Inhalte von Kinder– und Jugendbüchern auf allen Ebenen. Und es gibt viel Mut, diesen Hunger zu befriedigen. Stalinismus, Krieg in Aserbaidschan, Kriminalität werden zu Geschichten für eine junge, neugierige und diskussionsbereite Generation.
Es gibt auch Positives, so kamen anlässlich des siebzigsten Jahrestags des Siegs über Hitlerdeutschland Klassiker der Sowjet-Kinderliteratur zu dem Thema auf den Markt neben Neuerscheinungen, die ein differenziertes Bild präsentierten. Die jungen Leserinnen und Leser haben die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild zu verschaffen, Typen, Stereotypen zu hinterfragen und ein eigenes Bild zu gewinnen. Trotz Jugendschutz ist der Kinderbuchmarkt quicklebendig.
Die Verehrung des Worts
Illustrationen sind beliebt, auch sie haben eine reiche Tradition. Covergestaltung und Innenausstattung gehören zum schönen Kinder– und Jugendbuchbuch dazu. Sie machen das »schöne« Buch aus. Trotzdem ist das eigentlich wichtige am Kinderbuch das Wort. Gäbe man, so eine Vortragende, ein Buch nur mit Illustrationen heraus, fühlte sich das Publikum betrogen. Gut formulierte Sätze, die bestens erzählte Geschichte gehört einfach dazu. Auch das ist ein Grund für die oben erwähnte Hochschätzung der Lyrik.
Andererseits schafft eben diese Verehrung des Worts das eigentliche Problem. Niemand, so Olga Maeots, beschuldigt das Fernsehen, wenn Kinder angeblich gefährdet werden. Immer ist das Buch schuld!
Doch auch hierbei setzen alle darauf, Fakten zu schaffen. 2013 gründete Tanya Kromer von ›Samokat‹ zusammen mit Ksenia Kovalenko einen weiteren Verlag, ›Albus Corvus‹. Sie setzen vor allem auf Übersetzungen aus skandinavischen Ländern. Der Zwei-Frauen-Verlag hat inzwischen zwei weitere Mitarbeiterinnen, immer noch ein Kleinverlag. Allerdings muss man russische Dimensionen bedenken. Von den Abenteuern von ›Pettersson und Findus‹ verkaufte ›Albus Corvus‹ inzwischen gut 200.000 Exemplare. Davon träumen hiesige »Kleinverlage« nicht einmal.
Die Verlagsarbeit ist abenteuerlich, das Risiko weit höher als in Deutschland. Autorinnen etwa geben bei Publikation ihre Rechte nicht an den Verlag ab, das Risiko, dass sie ihr Buch gleichzeitig anderswo verkaufen, besteht immer. Im krisenanfälligen Russland kann es sehr schnell passieren, dass Buchhändlerinnen die Ware nicht bezahlen, die Verlage Autoren nicht mehr vergüten können. Kleine erfolgreiche Verlage werden gern von großen aufgekauft, die Verlagslandschaft verändert sich unentwegt. Ins Ausland dringt nur eine winzige Zahl russischer Kinder– und Jugendbücher, es ist ein nahezu geschlossener Markt.
Zugleich blühen Messen, Kulturveranstaltungen mit Lesungen und Buchpräsentationen, es besteht großes Interesse bei jungen Menschen, Buch-Illustration zu studieren oder Kinder– und Jugendbücher zu schreiben. Wird der Staatspreis, Känguru, ausgeschrieben, gibt es bis zu eintausend Einsendungen von Manuskripten. An Nachschub gibt es in Russland keinen Mangel, sehr viel davon ist gut geschrieben, wunderbar erzählt und gekonnt illustriert, betonten Olga Maeots und Ksenia Kovalenko.
Am Ende stand bei den Zuhörerinnen vor allem die Neugier auf die erwähnten Titel von diesem faszinierenden und nahezu unentdeckten Markt, der deutlich Schätze birgt für Kinder und Jugendliche.
Man bräuchte nur ein bisschen Mut.
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