Jugendbuch | Carlie Sorosiak: If birds fly back
Wenn man etwas verloren hat, macht man sich auf die Suche, um es wiederzufinden. Logisch. Was in dieser klaren Logik meist nicht beachtet wird, dass man beim Suchen über manches stolpert, das man überhaupt nicht gesucht hat. Davon erzählt Carlie Sorosiak temperamentvoll und sehr wortreich in ihrem Debütroman. Von MAGALI HEIẞLER
Linnys Schwester Grace ist verschwunden. Es gibt keine Erklärung, es kommen keine Briefe, keine Anrufe. Linny ist wild entschlossen, Grace aufzuspüren. Sie verbringt Stunden im Internet, beschäftigt sich mit dem Phänomen des Verschwindens. Sie ist so besessen von dem Thema, dass sie nicht nur die Welt um sich herum vernachlässigt, sondern sogar ihre Leidenschaft, Filme drehen, nur noch dem Rätsel Grace gilt. Dass ausgerechnet sie auf den alten Schriftsteller Àlvaro Herrera stößt, der seinerseits einige Jahre unauffindbar war, nimmt sie als Zeichen des Schicksals. Wenn sie Herreras Geschichte aufklärt, wird sie auch verstehen, was mit ihrer Schwester geschehen ist.
Sebastian könnte zufrieden sein, sogar glücklich. Er ist siebzehn, begeistert sich für Astrophysik und seine Familienverhältnisse sind eigentlich in Ordnung. Für ihn ist die Welt aber nicht in Ordnung. Seine Mutter verschweigt hartnäckig, wer sein wahrer Vater ist. Als sie unerwartet von einem Augenblick zum nächsten nachgibt, bricht Sebastian kurzerhand auf, um den Mann kennenlernen. Der Name seines Vaters lautet Àlvaro Herrera.
Fühlen bis zum Anschlag
Es gibt kaum etwas aus der zeitgenössischen vom Konsum durchtränkten Teenagerwelt, das in diesem Roman fehlt. Musik, Filmtitel, Computerspiele, Redewendungen, Kleidung, Denk- und Verhaltensweisen zielen so genau auf eine bestimmte Gruppe von Leserinnen und Lesern, dass man sich nach wenigen Seiten schon fragt, in welchem Labor diese Geschichte zusammengemischt wurde. Denn ein klassischer Roman ist die Geschichte nicht, sie ist ein Produkt. Das ist durchaus kunstfertig geschehen, handwerklich geradezu vorbildlich. Zwei Erzählstimmen, fetzige Dialoge, dazwischen Linnys Drehbuch-Entwürfe und Filmszenen. Das Meer, der Strand, Gras und glühender Asphalt, heiße Sommertage und -nächte. Das Universum in toto als philosophischer Wink. Politisch ist es gleichfalls nahezu makellos, es gibt afrikanische und mexikanische familiäre Zusammenhänge und natürlich kommt ein schwules Coming-out vor. Der künstliche Geschmack der Aromen stört keine und keinen, die mit Junkfood auf Tellern und in Köpfen aufgewachsen sind. Im Gegenteil würde in dieser Geschichte nichts funktionieren, gäbe es auch nur einen Hauch von Echtheit, ein Tröpfchen Realität.
Streicht man diese Erwartungen, so taumelt man bald glückselig durch eine knallbunte, zuckersüße Traumwelt, in der man fühlen darf bis zum Anschlag.
Sechzehn-, Siebzehnjährige, die ‚die Scherben ihres Lebens‘ zusammenkitten. Eine Sommerromanze, wie sie entzückender nicht sein kann. Der Schmerz! Der Streit! Die Reue! Die Exaltiertheit von Teenagern ist der Maßstab für den Ton der Geschichte. Geweint, gelitten, geliebt, geküsst, gelacht, verraten, verlassen und verziehen wird unablässig und in höchster Lautstärke. Dass es tatsächlich einmal ein richtiges Feuerwerk gibt, kommt einer fast altmodisch vor. Am Ende des Buchs ist man erschöpft, halbblind und fast taub wie nach einer übermäßig genossenen Partynacht. Der Magen ist auch nicht mehr ganz in Ordnung.
Das Thema
Es ist schwer zu entscheiden, ob Sorosiak das Thema »Verschwinden« gewählt hat, um ihr funkelndes Glitzer-Zuckerguss-Produkt um jeden Preis aus der Flut der US-Sommerromanzen für bedürftige Teenies herauszuheben oder ob ihr das Thema am Herzen liegt und ihre Fähigkeit nicht ausreicht, um es zu einem echten Roman zu verarbeiten.
Schmerz und Leid, die das Verschwinden geliebter Menschen bei den Zurückbleibenden auslöst, werden aufgeführt, aber so stromlinienförmig illustriert, dass sie jede Schärfe verlieren. Es sind gefühlige Tränen, die hier geweint werden, keine, die echtem Leid entspringen. Hier wird gelitten, wie es erlaubt ist, gefühlt nach Regeln, alles ist vorgegeben.
Die jungen Leserinnen haben keinen Raum, um selbst Gefühle auszuloten. Sie lernen vielmehr, wie man zu fühlen hat. Dass es sich lohnt, sich strikt nach den Normen der Unterhaltungskultur zu verhalten, lernen sie auch. Nicht nur bekommen die beiden Hauptfiguren die große Liebe geschenkt, auch die Rätsel lösen sich aufs Wunderbarste. Eine Prise Schuld, ein Löffelchen Reue, das genügt am Ende, um ein Problem aus der Welt zu schaffen, das tatsächlich ein tiefgreifendes ist. Von nun an wird alles besser. Die Hauptfiguren dürfen sein, wer sie wirklich sind – was man mit siebzehn schon punktgenau weiß – und die Welt wird bunt. Selbst der Tod wird rosarot verbrämt, aufgelöst in schalen Trost. Als ob Verschwinden nur ein Bühnentrick wäre. Das tut weh.
Schuld sind letztlich wieder die Mütter. Linnys vor allem, aber auch Sebastians verhält sich nicht eben fair. Wieder einmal muss man sich fragen, was eigentlich geschehen ist, dass es in Jugendromanen wimmelt vor Müttern mit höchst eigentümlichen Verhaltensweisen. Die böse Stiefmutter hat deutlich ausgedient, die Mütter sind es, die auf der Anklagebank sitzen. Voller psychischer Probleme sind sie, unreif, bindungsunfähig, egoistisch, unzuverlässig.
Was soll das? Was für ein Bild ist das, das schon fast Konvention ist in neueren Jugendromanen? Ist das ein Generationenkonflikt? Das Unvermögen, überkommene Rollenbilder zu überwinden? Inhärente Frauenfeindlichkeit? In der häufig geschilderten Plattheit ist es vor allem Stuss. Man sollte dem ein Ende setzen, jetzt. Wie auch der Leichtfertigkeit, mit der schmerzliche Themen zu bunten Bilderbogen verarbeitet werden, damit ohnehin gefühlsübersättigte Jugendliche nur genug Zucker bekommen.
| MAGALI HEIẞLER
| Abb: arena-Verlag
Titelangaben
Carlie Sorosiak: If birds fly back
[Über die Liebe unter Berücksichtigung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten]
(If Birds Fly back,2017). Übersetzt von Ulrike Köbele
Würzburg: Arena 2017
438 Seiten, 17,00 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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