/

»Also was nun, Leben oder Kunst?«

Menschen | Zum Tode der Schriftstellerin Gabriele Wohmann

»Wenn ich nicht schreibe, fühle ich mich nicht gut. Schreiben ist auch eine Gewohnheit, auch wenn es stimmt, dass ich ohne Schreiben wohl nicht atmen könnte«, erklärte Gabriele Wohmann 2006 in einem Interview. Am Montag (22. Juni) ist die Schriftstellerin in ihrer Geburtsstadt Darmstadt nach langer schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren gestorben. PETER MOHR über das Leben der selbsternannten »Graphomanin«.
[Abb: Andreas Bohnenstengel]

Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann bei einer Lesung 08/1992 in München. Abb: Andreas Bohnenstengel
Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann bei einer Lesung 08/1992 in München. Abb: Andreas Bohnenstengel
Diese Gewohnheit betrieb sie bis ins hohe Alter noch mit beachtlichem Eifer. Allein in den letzten 20 Jahren hat sie 18 Bücher (Romane und Erzählungen) mit einem kapitalen Gesamtumfang von mehr als 5000 Seiten veröffentlicht. Sie selbst bezeichnete sich einmal als »Graphomanin«, und aus ihrem persönlichen Umfeld wurde die These aufgestellt, dass sie schreibe, um zu überleben. Einen beträchtlichen Teil ihres »Lebens« (Manuskripte, Korrespondenzen und handschriftliche Aufzeichnungen) hat die Autorin 2005 bereits dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach zur Verfügung gestellt.

Gabriele Wohmann, die am 21. Mai 1932 als Tochter eines Pfarrers in Darmstadt geboren wurde, arbeitete nach dem Musik- und Germanistikstudium drei Jahre als Lehrerin in ihrer Heimatstadt und auf der Nordseeinsel Langeoog, ehe sie sich vollends der Literatur widmete und eines der jüngsten Mitglieder der legendären Gruppe 47 wurde.

Den literarischen Moden hat sich die Darmstädterin, die u.a. mit dem Stadtschreiberpreis der Stadt Mainz, dem Hessischen Kulturpreis, dem Konrad-Adenauer-Preis und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, im Laufe von fast vier Jahrzehnten hartnäckig widersetzt. Gabriele Wohmann ist stets eine traditionelle, dem Realismus verpflichtete Erzählerin geblieben, und auch in ihrer Lyrik bevorzugte sie die einfache, klare Sprache.

Ihre Romane und Erzählungen waren zumeist in dem Milieu angesiedelt, das die Autorin – ihr eigenes Umfeld charakterisierend – als »spätbürgerlich« bezeichnet hat. Die vermeintlich kleinen Katastrophen im zwischenmenschlichen Bereich, die als Spiegelbild für eine sich verändernde Gesellschaft fungieren, die Vereinsamung des Individuums, abrupte Veränderungen im gewohnten Alltag oder schmerzliche Verluste durch den Tod eines nahen Angehörigen (so in einem ihrer besten Erzählwerke ›Frühherbst in Badenweiler‹, 1978) – dies waren die ständig wiederkehrenden und mannigfaltig variierten Sujets.

Doch Gabriele Wohmann hat nicht nur mit sezierendem Blick in die gutbürgerlichen Wohnstuben geschaut und die dort verborgenen Tragödien beleuchtet, sondern auch latent auf gesellschaftlich-politische Problemfelder (Umweltzerstörung, Golfkrieg, deutsche Vereinigung, Alkohol- und Tablettenmissbrauch, Patchwork-Familien) aufmerksam gemacht. Nicht in Leitartikel-Manier mit moralisierendem Zeigefinger, wie es viele Kollegen bevorzugten, sondern zwischen den Zeilen – verborgen hinter ihren literarischen Figuren.

Mehr als siebzig Bücher und ein gutes Dutzend erfolgreicher Hörspiele hat Gabriele Wohmann veröffentlicht. Unübersehbar ist aber auch, dass sie sich in den letzten Jahren zur Epigonin ihrer selbst entwickelt hat. Themen, Figuren und das beschriebene gesellschaftliche Ambiente unterschieden sich nur noch durch Nuancen. Das Schreiben war tatsächlich allzu stark zur Gewohnheit geworden.

Durchaus charakteristisch für diesen Zustand stellt die Wohmann-Figur Muriel am Ende des Romans ›Schön und gut‹ (2002) die Frage: »Also was nun, Leben oder Kunst?« Gabriele Wohmann hatte sich für das Leben entschieden. Am Montag (22. Juni) ist die Schriftstellerin in ihrer Geburtsstadt Darmstadt nach langer schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren gestorben.

| PETER MOHR

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Held der einfachen Wege

Nächster Artikel

Von der kleinen bis zur großen Welt

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Classic Rock funktioniert

Musik | Interview mit Drake Stone

Mit dem Album Skydive beweisen Drake Stone, dass Classic Rock nach wie vor funktioniert und verdammt kompatibel ist! MARC HOINKIS unterhält sich mit Mike Schlee über die neue Scheibe.

Singulärer Sound

Menschen | Zum Tod des spanischen Bestseller-Autors Carlos Ruiz Zafón

Der katalanische Autor Carlos Ruiz Zafón war eine Art Popstar unter den Schriftstellern. Jede Buch-Neuvorstellung hatte Event-Charakter. Sein 2003 in deutscher Übersetzung erschienener Roman ›Der Schatten des Windes‹ wurde ein Weltbestseller, in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mehr als 15 Millionen Mal verkauft. Von PETER MOHR

Mit den Steinen sprechen

Menschen | 100. Geburtstag von Erich Fried

Als der Schriftsteller Erich Fried am 17. Oktober 1987 den Georg-Büchner-Preis entgegennahm, war er bereits deutlich sichtbar von seiner schleichenden Krankheit gezeichnet. Dennoch holte er in der erlauchten Runde der Darmstädter Akademie noch einmal zu einem verbalen Keulenschlag aus, als er in seiner Dankesrede provokant behauptete: »Es ist wahrscheinlich, dass dieser Zwanzigjährige (gemeint ist Georg Büchner) sich in unserer Zeit zur ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe geschlagen hätte.« So war Erich Fried: einerseits vor allem wegen seiner Lyrik geachtet, geschätzt und mit Preisen dekoriert und andererseits ein politisch fragwürdiger, kaum zu bändigender Poltergeist. Von PETER MOHR

Emigrant, Flüchtling, Mensch

Menschen | Zum Tod des israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld »In den späten fünfziger Jahren gab ich meinen Wunsch auf, ein israelischer Schriftsteller zu werden. Stattdessen bemühte ich mich, das zu sein, was ich war – ein Emigrant, ein Flüchtling, ein Mensch, der das Kind der Kriegsjahre in sich trug«, erklärte Aharon Appelfeld vor einigen Jahren in einem Interview. Von PETER MOHR

Trauer ohne Hass

Menschen | Zum 50. Todestag von Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (am 12. Mai)

»Ihr lyrisches und dramatisches Werk gehört jetzt zu den großen Klagen der Literatur, aber das Gefühl der Trauer, welches sie inspirierte, ist frei von Hass und verleiht dem Leiden der Menschheit Größe«, hieß es in der Laudatio von Ingvar Andersson anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises, den Nelly Sachs am 10. Dezember 1966 (an ihrem 75. Geburtstag) aus den Händen des schwedischen Königs Gustavs VI. Adolf entgegen nahm. Von PETER MOHR