Friedlich lässt es sich hier nicht leben

Comic | B.Yakin (Text)/N.Bertozzi (Zeichnungen): Jerusalem. Ein Familienporträt

Es gibt wohl nur wenige politische Themen der heutigen Zeit, die brisanter und auch schwieriger sind, als der blutige Israel-Palästina-Konflikt, der im öffentlichen Diskurs mit hoher Emotionalität geführt wird. Ausgerechnet aus dem Beginn dieses Konfliktes in Jerusalem haben Regisseur und Comic-Autor Boaz Yakin und Zeichner Nick Bertozzi eine Graphic Novel kreiert: ›Jerusalem. Ein Familienporträt‹. Von PHILIP J. DINGELDEY

JERUSALEMEINFAMILIENPORTRC4T_Hardcover_156Das Werk ist eine differenzierte wie auch brutale Darstellung des Konfliktes, die sowohl den ewigen Zankapfel zwischen den Monotheismen – die Stadt Jerusalem – als auch das Leben einer jüdischen Familie und ihrer inneren Antagonismen beleuchtet.

Im Kontext der Konflikte um Jerusalem in den Jahren 1946 bis 1948, erzählt Yakin die fiktive Geschichte der jüdischen Familie Halaby. Die Exposition könnte aus der Thora stammen, wird doch hier der jüdische Topos des Bruderzwistes kopiert: Yakov Halaby hasst seinen Bruder Izak, der von ersterem wiederum finanziell abhängig ist und hohe Schulden hat. Yakov, ein typischer reicher Heuchler, beneidet Izak um die einstige Liebe der Eltern und nutzt nun die Abhängigkeit, um seinen Rachegelüsten freien Lauf zu lassen. So lebt Izak in Armut mit seiner Frau Emily, seiner Tochter Devorah und seinen Söhnen Avraham, David, Ezra und Motti. Letzterer, sein jüngstes Kind, ist gewissermaßen der wichtigste Protagonist, dessen bester Freund sein Cousin Jonathan Halaby ist – sprich, der Sohn des missgünstigen Yakov.

Schonungslos, aber realistisch

Die freundschaftliche Beziehung der Kinder wird zunehmend erschwert, da Yakov dem Bruder regelmäßig den Gerichtsvollzieher ins Haus schickt, die Familie am Hungertuch nagt, Izak zunehmend resigniert, Emily zu einer bipolaren, aber immer harscheren Mutter wird, und immer mehr Einrichtungsgegenstände versteigert werden. Die Freundschaft zwischen den Kindern (Jonathan verliebt sich außerdem in Devorah, die durch die elterliche Behandlung an Minderwertigkeitskomplexen leidet) vermag ergo nicht den Bruderzwist zu linden. Im Gegenteil, der Kampf der Väter überschattet zunehmend den kindlichen Alltag.

Doch auch um die Familie herum bricht Jerusalem zusammen und involviert die Protagonisten: So ist einer der Söhne Izaks Zionist, der gegen Briten und Araber kämpft, da Israel nur den Juden zustünde – unter religiöser Begründung und der Angst vor Genoziden und dem Antisemitismus in Europa. Ein anderer ist Kommunist, der Araber und Juden gegen die Briten einigen will und den Klassenkampf forciert, mit einer tendenziellen Affinität für den Stalinismus. David dagegen geht nach Europa, um dort Juden in sein Land zu schmuggeln. Diese voreinander verdeckten innerfamiliären Antagonismen brechen mit der Zweistaatenlösung der Vereinten Nationen schließlich vollends hervor. Alle Kinder engagieren sich auf ihre Weise in dem Konflikt und sind nicht gerade zimperlich mit Feinden, was für die Halabys mit weiteren Desastern in einem ohnehin desaströsen Land mündet.

Am gelungensten ist wohl der Höhepunkt der Graphic Novel, der den kriegerischen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern beinhaltet. Betozzi zeigt in seinen Zeichnungen schonungslos und ostentativ die rohe Gewalt, den Blutdurst und den Hass auf beiden Seiten, der barbarische Züge annimmt. Hier fliegen einem schnell Leichen- und Körperteile um die Ohren, jedoch ohne dass die Darstellung unrealistisch oder gewaltverherrlichend wird. Die Skizzierung von bösartigen und wahnsinnigen Zügen in den Gesichtern vieler Protagonisten in diesem Abschnitt und der unbändige Hass der Akteure unterstreichen eher den abschreckenden Charakter der überbordenden Gewalt.

Das Land, die Völker, die Familien sind zutiefst gespalten

Diese zeichnerische Leistung macht sich auch Yakin zunutze, indem es ihm gelingt, weder für die eine noch für die andere Seite besonders Partei zu ergreifen oder zu behaupten, eigentlich seien Juden oder Araber hier im Recht. Die Perversionen beider Seiten werden dargelegt und nichts favorisiert, denn jedes Recht geht im Massaker unter! So ist zwar der Fokus der Graphic Novel dezidiert jüdisch, jedoch nicht die Erzählperspektive oder -positionierung.

Qualitativ hochwertig wirkt ›Jerusalem. Ein Familienporträt‹ durch den schnellen Wechsel der Konfliktlinien auf verschiedenen Ebenen: von den innerfamiliären Konflikten in Izaks Familie, zum Bruderkampf, zur Freundschaft der Söhne, über den Kampf gegen die britische imperialistische Besatzungsmacht, hin zum Israel-Palästina-Konflikt, und all das immer wieder abwechselnd. Denn die Konflikte auf der familiären Ebene spiegeln als pars pro toto die Kämpfe auf den jüdischen und auf kriegerischen Ebenen wider – das Land, die Völker, die Familien sind zutiefst gespalten.

Auf allen Erzählebenen endet die Graphic Novel in einer Katastrophe, und am Ende präferiert Motti gar die Dunkelheit. Dadurch ergibt sich ein resignatives, beklemmendes Fazit: Friedlich und harmonisch lässt es sich in diesem Konfliktherd nicht leben – und eine Verbesserung ist bis heute nicht abzusehen.

| PHILIP J. DINGELDEY

Titelangaben
Boaz Yakin (Text) und Nick Bertozzi (Zeichnungen): Jerusalem. Ein Familienporträt
Aus dem Englischen von Monja Reichert
Stuttgart: Panini Comics 2015
404 Seiten, 29,99 Euro

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

An der französischen Atlantikküste

Nächster Artikel

Mein Freund, der Baum

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Mogelpackung

Comcic | Xavier Dorison (Text); Terry Dodson (Zeichnungen): Red Skin 1: Welcome to America Eine nackte, wohlgeformte Schönheit, die Worte »Red Skin« stehen auf ihrem Rücken, lächelt den Leser verführerisch über die Schulter hinweg an. Ein Schelm, wer bei einem solchen Titelbild Arges denkt. Doch mehr nackte Haut als auf dem Cover hat die eigenwillige Superhelden/Agenten-Persiflage nicht zu bieten. Das ist nicht der einzige Grund, warum BORIS KUNZ ein wenig enttäuscht war.

Meister des Body-Horrors

Comic | Shintaro Kago: Parataxis Mangas werden bei ›TITEL‹ ja eher selten besprochen. Doch wenn es schon einmal so erschütternde und dystopische Mangas gibt, wie Shintaro Kagos Kurzgeschichten ›Parataxis‹, die nun als vollständige Sammlung in einer Master Edition vorliegen, so verdient das doch die Aufmerksamkeit der Comickritik. PHILIP J. DINGELDEY hat sich das Werk des Meisters des Body-Horrors angesehen.

Zuviel des Guten

Comic | Scott McCloud: Der Bildhauer Ist ›Der Bildhauer‹, Scott McClouds erste abgeschlossene Comic-Langerzählung das Meisterwerk, das man von einem Künstler seines Kalibers erwartet hatte? Oder steht der vor allem als Comic-Theoretiker berühmte Mann sich eventuell selbst im Weg? CHRISTIAN NEUBERT hat sich den dicken Comic-Brocken vorgenommen – und viel Gutes entdeckt. Zu viel.

H für Husarenstück

Comic | Miéville/Santolouco/Burchielli: Dial H – Bei Anruf Held 1: Neue Verbindung Der bekannte Fantasyautor China Miéville hat Bei Anruf Held, eine der absurdesten Superheldenreihen der 80er Jahre, wieder aufleben lassen, und macht mit einem kühnen erzählerischen Spagat vor, wie man etwas gleichzeitig ernst und auf die Schippe nehmen kann.BORIS KUNZ hat sich auf diese Tour de force eingelassen.

Schollenwelten im Chaos!

Comic | Joann Sfar / L.Trondheim, Mazan: Donjon 111/V.Klinke, F.Mertikat: Steam Noir – Das Kupferherz 4/L. Trondheim: Ralph Azham 5 Mit ›Das Ende des Donjon‹ und dem vierten Band der Erzählung ›Das Kupferherz‹ aus dem ›Steam Noir‹-Universum finden zwei bemerkenswerte Comicepen ihren Abschluss. Die sehr unterschiedlichen Werke eint die Gemeinsamkeit, dass darin faszinierende Welten entworfen wurden, die sich aus schwebenden Schollen zusammensetzen. Doch was den einen Anlass für Slapstick und Spektakel ist für die anderen eher ein Grund für düsteren Existenzialismus. Beide waren (ebenso wie ein aktueller Band von ›Ralph Azham‹) für BORIS KUNZ Anlass, über das Verhältnis zwischen ausufernder