Einmal London und zurück

Roman | Judith Kuckart: Wünsche

Judith Kuckarts Roman ›Wünsche‹ steckt voller Sehnsüchte und Wünsche, ist allerdings kaum ein sentimentales »Wunschkonzert« – findet PETER MOHR

Kuckart Wünsche»Wie einfach war es, in einem anderen Namen zu verschwinden. Man konnte sich immer noch in Luft auflösen, selbst im 21. Jahrhundert«, bekennt Vera Conrad, eine der Hauptfiguren in Judith Kuckarts siebten Roman ›Wünsche‹. Der Titel ist mehrdeutig, denn es geht hier nicht nur um unerfüllte Sehnsüchte und Träume, sondern ›Wünsche‹ heißen auch zwei weitere Hauptfiguren – ein Geschwisterpaar, das in einer Kleinstadt ein Kaufhaus geerbt hat.

Meret und Friedrich Wünsche sind einst mit der Berufsschullehrerin Vera gemeinsam zur Schule gegangen, sind jetzt Mitte vierzig und stammen aus einer sehr provinziell gezeichneten Kleinstadt, die Judith Kuckarts Geburtsstadt Schwelm nicht unähnlich ist. In diesem Kleinstadtmief kennt jeder jeden, die blinde Vertrautheit verwandelt (je nach Perspektive und eigener Gefühlslage) sich rasch in einen 24-Stunden-Kontroll-Automatismus.

Da versteht es sich fast von selbst, dass man aus- und aufbrechen möchte. Erst recht, wenn man wie Vera nie die Chance zur Selbstfindung hatte. Als Teenager hatte sie einmal die Hauptrolle in einem Film gespielt, später war sie aus der Rolle der Adoptivtochter nahtlos in die der Ehefrau gewechselt – nachdem Suse, die Frau ihres Stiefvaters Karatsch gestorben war.

An ihrem 46. Geburtstag verschwindet Vera, ausgestattet mit einem fremden Ausweis, den sie zuvor in einer Tasche in einem Schwimmbad gefunden hatte. »Die Storyline meines Lebens war einfach schlecht bisher. Die Höhepunkte lagen zu früh, der große Wendepunkt kam fast zu spät«, bekennt die »Aussteigerin«, die sich in der Riesenmetropole London eher schlecht als recht, aber dafür weitestgehend anonym, durchs Leben schlägt.

Als junges Mädchen hatte sie zuvor schon einmal gemeinsam mit ihrer eigenwilligen Freundin Meret die englische Hauptstadt besucht. Statt Berufsschullehrerin nun Hilfspflegerin – der Traum vom Lebensglück kann das nicht gewesen sein, eher der zaghafte Versuch, die beengenden Fesseln des Provinznestes abzustreifen.

»Menschen, die man liebt, muss man das Recht einräumen zu verschwinden«, meint Veras Sohn Jo, als er seinen Vater zu trösten versucht. Der Teenager sticht mit seiner Gelassenheit und jugendlichen Unbekümmertheit, aber auch mit seiner Weisheit aus dem ansonsten von Tristesse dominierten Figurenensemble heraus.

Nicht nur Vera steht an einem selbst gewählten Scheideweg, auch die beiden Wünsches versprühen alles andere als Zufriedenheit. Friedrich sucht nach einem Lebenssinn abseits des Kaufhaus-Managements, und seine bisweilen etwas »ausgeflippte« Schwester Meret hat Probleme mit dem Verblassen ihrer Attraktivität.

Das liest sich aus dem Blickwinkel des Trios wie eine multi-perspektivische Lebenszwischenbilanz, und daraus resultiert für alle Beteiligten die spannende Frage: Was kommt noch? Zumindest für Vera ist nach ihrer Rückkehr aus London die nächste Lebensetappe vorgezeichnet, denn ihr Ehemann hat einen Schlaganfall erlitten, und sie wird offensichtlich die Rolle der Pflegerin übernehmen. Und die Wünsche-Geschwister lassen im Kaufhaus die alte Drehtür wieder einbauen: »Neue Zeiten brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen.«

Judith Kuckart hat sich seit ihrem Debüt mit dem nur mäßig geglückten Terrorismus-Roman ›Wahl der Waffen‹ (1990) prächtig weiter entwickelt und ist zu einer ganz wichtigen Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geworden. Ohne großes verbales Gepolter versteht sie es, in ihren spannend zu lesenden »Storys« Fragen aufzuwerfen, die uns alle bewegen. Wie stark beeinflussen Zufälle unsere Biografien? Eine der Kardinalfragen des vorliegenden Romans ›Wünsche‹.

»Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, erklärte Judith Kuckart kürzlich in einem Interview.

Ganz unaufdringlich und vor allem völlig unideologisch hat sie sich en passant auch noch dem Thema Heimat gewidmet. Ist Heimat der Ort, aus dem man stammt oder ein Ort, den man sich erträumt und an dem man sich wohlfühlt? Stoff für abendfüllende Diskussionen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Judith Kuckart: Wünsche
Köln: Dumont 2013
301 Seiten, 19,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Frederik groß und Frederik klein

Nächster Artikel

Die Novelle des Grafikers

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wiedersehen und Wiederhören in Erlangen

Lyrik | Ulla Hahn am 34. Erlanger Poetenfest Im Rahmen des 34. Erlanger Poetenfests wurde die Dichterin Ulla Hahn mit einem Autorenporträt Herz über Kopf im Spiel der Zeit am vergangenen Freitag Abend im Markgrafentheater der Stadt gefeiert. Der Journalist und Literaturkritiker Dirk Kruse moderierte das Gespräch mit der Autorin, die aus ihrem lyrischen Werk und ihren autobiografischen Romanen las. Anmerkungen von HUBERT HOLZMANN

Reiko Himekawa ermittelt

Roman | Tetsuya Honda: Blutroter Tod In Japan hatte sie bereits acht Auftritte. Weitere sind geplant. Die deutschen Leser lernen Reiko Himekawa jetzt mit zehnjähriger Verspätung in Tetsuya Hondas (Jahrgang 1969) Roman Blutroter Tod kennen. In ihrem ersten Fall bekommt es die blitzgescheite Ermittlerin der Tokioter Mordkommission gleich mit elf Leichen zu tun. Alle scheinen sie Opfer eines perversen Rituals zu sein – einer Todesshow, die so lange einmal pro Monat weitergehen wird, bis man ihren Organisatoren das Handwerk gelegt hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Wyatt und die Raubkunst

Roman | Garry Disher: Hitze Wyatts achter Auftritt führt ihn an die australische Goldküste im Osten des Landes. In dem kleinen Urlauberörtchen Noosa, nördlich von Brisbane, versucht Garry Dishers krimineller Held, sich bzw. seine Auftraggeberin in den Besitz eines Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert zu bringen. Die Nazis haben das Bild einst für das von Hitler in Linz geplante Museum einer jüdischen Industriellenfamilie abgegaunert. Nun will Hannah Sten, Nachkommin der einstigen Besitzer, das Bauern bei der Feldarbeit zeigende Kunstwerk zurückhaben. Von DIETMAR JACOBSEN

Sch’majas Traum

Roman | Jim Shepard: Aron und der König der Kinder Jim Shepard ist es gelungen, einen bedrückenden und anrührenden Bildungsroman inmitten des Grauen und der Wirren des Warschauer Ghettos zu platzieren. In Aron und der König der Kinder versucht der Simpel Aron alias Sch’maja in der furchtbaren Zeit der Deportation zu überleben und seine Familie zu schützen. Natürlich gelingt ihm beides nicht. VIOLA STOCKER las einen Roman über Menschwerdung in der Hölle.

Wie alles begann

Roman | Lee Child: Der letzte Befehl Jack Reachers Alleinstellungsmerkmal unter den Thrillerhelden unserer Tage ist seine Unbehaustheit. Irgendwann ist der Ex-Militärpolizist auf der Straße gelandet. Seither beginnt jedes seiner Abenteuer dort und es endet auch da. Weder an Menschen noch an Orte fühlt sich Reacher gebunden. Einzig sein Gerechtigkeitsgefühl dient ihm als moralischer Kompass. Über die Gründe, warum sein Held immer unterwegs ist, hat sich Lee Child bis 2011 ausgeschwiegen. Dann erschien der 16. Jack-Reacher-Roman unter dem Originaltitel The Affair. Den gibt es nun auch auf Deutsch. Und endlich erfährt man, wie alles begann. Von DIETMAR JACOBSEN