Comic | M.Mignola, Ch.Golden, B.Stenbeck: Baltimore 1 / R.Kirkman,P.Azaceta: Outcast Band 1
Der Vampirjäger ›Baltimore‹ ist eine Schöpfung von Comiclegende Mike Mignola, dem Vater von ›Hellboy‹ der es bereits zu zwei Kinoauftritten gebracht hat. Shootingstar Robert Kirkmans neue Reihe ›Outcast‹ wird von HBO als Serie verfilmt – nach dem großen Erfolg von ›The Walking Dead‹. Zwei vielversprechende neue Horrorcomics im Cross Cult Verlag. BORIS KUNZ haben sie einiges über das Fürchten gelehrt.
Das Horror-Genre: Obwohl man meinen könnte, es wäre schon in allen Varianten dutzendfach durchgespielt worden, erfindet es sich doch immer wieder neu. Mignola und Kirkman gehören zweifellos zu seinen wichtigsten zeitgenössischen Neuerfindern, schlagen dabei allerdings ganz unterschiedliche Wege ein. Während Mignola großen Vorbildern wie Bram Stoker oder H.P. Lovecraft huldigt und ihre Schreckensvisionen wie Postkartenmotive untereinander neu arrangiert, nimmt Kirkman den äußeren Schrecken zum Anlass, um voller Ernst vom inneren Leiden seiner Figuren zu erzählen. Der eine feiert das Horrorgenre – der andere lässt echten Horror entstehen.
Baltimore
Vor 100 Jahren sah sich die Menschheit mit einem Horrorszenario konfrontiert, an dessen Entsetzlichkeit sie sich noch heute abzuarbeiten hat: Mit dem Ersten Weltkrieg, der ersten maschinellen Massenvernichtung, bei der die Menschen von ihren eigenen Fähigkeiten, industriellen Tod zu produzieren, noch selbst überrumpelt wurden.
In der Phantasie von Mike Mignola hat das bis dahin nie da gewesene Ausmaß an Blut und Gemetzel eine uralte, vorgeschichtliche Rasse von Ungeheuern aus ihrem Jahrtausende währenden Schlummer aufgeweckt: Die Vampire. Sie beginnen, sich vom Blut der gefallenen Soldaten auf den Schlachtfeldern zu ernähren. Schließlich kommt es zu einer unvermeidbaren Konfrontation: Der britische Captain Lord Henry Baltimore entstellt den Vampirfürsten Haigus mit einem Streich seines Säbels und erweckt dabei seinen Zorn.
Kurz darauf bricht auf den Schlachtfeldern die Pest aus, die sich schnell und unaufhaltsam auf dem europäischen Kontinent ausbreitet. Als angesichts dieser Seuche immer mehr Soldaten desertieren, um bei ihren Familien zu sein, kommt der Krieg zwischen den Menschen zum Erliegen – doch dafür bricht ein neuer Krieg aus, denn viele Pesttote kehren als Vampire ins Leben zurück. Je größer ihre Zahl und je stärker ihre Macht wird, um so mehr stürzt Europa in die Finsternis. Auch andere uralte Schrecken, Ungeheuer und Menschenfresser erwachen zu neuem Leben und lauern in den verlassenen Schützengräben, in den Wäldern und unter den Brücken.
Diese griffige Prämisse schafft eine Welt zwischen Historizität und Postapokalypse. Durch ein düsteres, altes Europa, wo überall Ungeheuer lauern, zieht die ikonische Gestalt von Lord Baltimore: Den Kopf rasiert, den Körper mit so vielen Waffen behängt, wie ein Mensch nur tragen kann, erinnert er mit seinen markigen Sprüchen, seiner Harpune auf der Schulter und seinem Holzbein an eine Mischung aus Kapitän Ahab und Vin Diesel.
Als solcher tauchte er zunächst in dem Roman ›Baltimore oder Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir‹ auf, den Mike Mignola mit seinem Co-Autoren Christopher Golden geschrieben hat. Man muss den Roman allerdings nicht kennen, um der Comicreihe folgen zu können, für die Mignola und Golden weiterhin als Autoren fungieren. Für die grafische Umsetzung haben sie sich den sehr begabten Zeichner Ben Stenbeck und den bekannten Koloristen Dave Steward mit an Bord geholt. Entstanden sind dabei vier längere Erzählungen in mehreren Kapiteln sowie eine Reihe von Kurzgeschichten, die zusammengenommen von der Jagd Baltimores nach seinem Erzfeind Haigus erzählen. Dieser Zyklus liegt nun in einem über 500 Seiten dicken Prachtband vor, der mit zahlreichem Bonusmaterial versehen ist, unter anderem natürlich viele Skizzen, Titelbildern und einer Reihe von Vorworten von ganz unterschiedlichem Mehrwert. In den interessanteren von ihnen wird die Welt von Baltimore in einen kulturhistorischen Kontext eingeordnet.
Dass einer dieser Vorwort-Autoren beim Aufzählen sämtlicher Bezüge zu anderen Horrorgeschichten gar kein Ende mehr finden will, verrät schon viel über den Duktus des Werks: Mignola und Golden erzählen nicht einfach nur Horrorgeschichten, die im Ersten Weltkrieg spielen: Sie haben eine eigene Welt, eine eigene alternative Wirklichkeit geschaffen. Doch so wie in ihrer Geschichte die Dämonen immer neue Dämonen schaffen, sind die Schreckensbilder dieses Comics Ausgeburten anderer Bilder. Die Welt von ›Baltimore‹ ist für ihre Schöpfer ein vielseitiger, aufregender Spielplatz: Vampir-Nonnen und U-Boot-Friedhöfe, Zombie-Taucher und österreichische Dörfer mit schrägen Namen gehören ebenso zum Repertoire wie diverse Nebenfiguren, die sich mehr oder weniger gut getarnt als historische Personen entpuppen. Baumdämonen, Riesenschlangen, Missgeburten: In diesem Gruselkabinett ist alles möglich.
Ben Stenbeck hat dieses Potpourri des Horrors sehr eindrucksvoll in Szene gesetzt. Obwohl er in Sachen Bildkomposition und Abstrahierung einiges vom großen Meister Mignola übernommen hat, hat er einen eigenen Strich, der etwas runder und greifbarer wirkt und der ihm vor allem bei der Gestaltung der diversen Monster zugutekommt. Man hat ja inzwischen auf Comicseiten und Kinoleinwänden so einige Riesenspinnen zu Gesicht bekommen – und trotzdem schafft es Stenbeck, mit seinem Bild von unter einer Brücke hausenden Monsterspinnen dem Betrachter Schauer über den Rücken zu jagen. Es sind im wahrsten Sinne des Wortes die Bilder, die Baltimore zu einer so eindrucksvollen Lektüre machen – weniger die Story.
Hier tritt ein Phänomen auf, das auch schon bei ›Hellboy‹ zu beobachten war und sich in ›Baltimore‹ auch nicht gebessert hat: Mignola kann seine Geschichten wunderbar aufbauen, bringt sie aber meistens recht simpel zu Ende. (Das originelle zweite Kapitel, ›Die Glocken der Verdammnis‹, ist eine überraschende Ausnahme…). Es ist die Eigenschaft der Hauptfigur, sich als Ein-Mann-Armee gegen Horden von Zombies und Ungeheuern recht unbeschadet zur Wehr setzen zu können, die sich irgendwann spannungsmindernd auswirkt: Der Kerl ist nicht kaputt zu kriegen und kann jeden noch so schaurigen Dämon im Prinzip mit Harpune, Schwert und Pistole schon irgendwie erledigen, solange er noch etwas Weihwasser im Gepäck hat.
Der unerschütterlichen Unversehrbarkeit der Hauptfigur stehen einige spannende Schurken gegenüber, die allerdings von den Autoren immer wieder gebrochen werden. Ob das der fanatische Inquisitor Duvic ist, der dem religiösen Wahn verfällt, oder Haigus selbst, der sich von Hexenmeistern einfangen oder von Musen verzaubern lässt: Keine dieser Figuren scheint eine ernsthafte Bedrohung für Baltimore zu sein; zumindest keine, die schlimmer wäre als die Scharen von Vampiren und Monstern, die ohnehin an allen Ecken und Enden auftauchen. Nur in der dunklen Ferne noch zu erwartender Fortsetzungen lauert der gewaltige »Rote König« (bei dem dann wieder Stephen Kings ›Der Dunkle Turm‹ recht schön grüßen lässt) …
Was ›Baltimore‹ dennoch zu einer fesselnden Grusellektüre macht, ist die pure Ansammlung ikonischer Bilder, der Einfallsreichtum der Settings, die apokalyptische Symphonie, die während Baltimores Queste auf Schritt und Tritt als Begleitmusik zu hören ist. ›Baltimore‹ ist ein Comic von Liebhabern für Liebhaber, eine wilde Geisterbahnfahrt, in der wir staunen können, aber mit heiler Haut davon kommen.
Outcast
Robert Kirkman macht es uns damit weniger leicht. Nachdem er sich mit Superhelden, Dinosauriern in Kampfanzügen und Gentleman-Dieben auch eine Weile in eher poppigen Gefilden herumgetrieben hat, kehrt er mit ›Outcast‹ in die düsteren Gewässer des Genre-Horrors zurück, die ihn berühmt gemacht haben. Und wie auch ›The Walking Dead‹ das Zombie-Genre zwar ausreichend bediente, gleichzeitig aber neue Facetten darin entdeckte, ist auch ›Outcast‹ schon von den ersten Seiten an mehr als eine gewöhnliche Exorzismus-Geschichte – und spielt dennoch perfekt auf der Klaviatur des Genres. Gleichzeitig mischt Kirkman es mit Elementen des Sozialdramas und des Verschwörungsthrillers.
Für seine Umwelt ist Kyle Barnes ein Gestörter. Ein Missbrauchsopfer, der als Junge von seiner Mutter brutal misshandelt und geschlagen wurde, irgendwann als junger Erwachsener durchgedreht ist und die gleiche Gewalt an seine Frau und seine kleine Tochter weitergegeben hat. Seit der Trennung von seiner Frau lebt Kyle im heruntergekommen Haus seiner hospitalisierten Mutter ein Einsiedlerleben, unterbrochen nur von seiner Stiefschwester Megan, die es sich nicht nehmen lässt, Kyle einmal in der Woche zum Einkaufen zu zerren, damit er wenigstens was Vernünftiges im Kühlschrank hat.
Die schaurige Wahrheit, die hinter seinem verkorksten Leben steckt, kann Kyle niemandem mitteilen: Seine Mutter war offenbar von einem Dämon besessen – ebenso wie seine spätere Frau Allison. Daher die Blessuren der gemeinsamen Tochter. Irgendwie scheint Kyle Barnes also das Böse anzuziehen. Dabei ist ihm noch nicht klar, dass er auch die Fähigkeit hat, durch sein Blut Dämonen wieder aus den Körpern ihrer Opfer zu vertreiben.
Der Reverend Anderson ist es, der diese Fähigkeiten in Kyle wachruft, als er ihn eines Tages darum bittet, ihn zu einem Exorzismus zu begleiten. Das Erlebnis, als es ihm gelingt, einen besessenen Jungen von seinem Dämon zu befreien, ist ein Weckruf für Kyle. Nun will er mehr über sich und seine unheilvolle Verbindung zur Welt der bösen Geister herausfinden. Langsam stellt sich heraus, dass es immer häufiger Fälle von Besessenheit ringsumher gibt, dass dahinter ein düsterer Plan zu stecken scheint, der von unheimlichen Verschwörern ausgeheckt wurde, hinter denen der Teufel persönlich stecken könnte. Und Kyle Barnes ist, ob er will oder nicht, eine Schlüsselfigur in ihrem unheimlichen und rätselhaften Plan.
Kirkman geht es nicht darum, dem Exorzismus-Horror durch die Verbindung mit einem Verschwörungsplot eine überdrehte Meta-Ebene zu verpassen. Er nimmt das Genre ernst, es geht ihm um wahre Gänsehaut-Momente. Kirkman schlägt einen düsteren Erzählton an, in dem es nur wenige Lichtblicke und helle Momente gibt und der Humor sich meist im Zynismus der Figuren erschöpft. Die Helden der Geschichte sind gebrochene Gestalten, das gilt auch für den braven Reverend Anderson, der zwar tagsüber die ärmsten Mitglieder seiner Gemeinde mit Lebensmitteln versorgt, das Geld dafür allerdings nachts beim Pokerspielen gewinnt. Dabei trinkt er gerne einen über den Durst, und sinniert darüber, ob Gott die Menschen nicht schon längst aufgegeben hat und wir nicht alle schon dem Teufel gehören.
Auch die Zeichnungen von Paul Azaceta lassen Realismus und düsteren Horror zur unheimlichen Symbiose werden. Die Dekors sind ausgearbeitet genug, um ein glaubhaftes, wiedererkennbares Flair der Suburbs von West Virginia zu entwickeln, doch schon die durch und durch düstere Farbgebung von Elizabeth Breitweiser, in der ausschließlich gedeckte Töne von Graublau und Rotbraun dominieren, lässt selbst in harmlosen Dialogszenen ein unheimliches Flair entstehen, als wäre die ganze Welt in düsteres Zwielicht getaucht, als gäbe es keinen Morgen mehr sondern nur noch eine beständige Abenddämmerung. Besonders gelungen ist Azaceta die Gestaltung der Figuren, deren einprägsame Charaktergesichter die filmische Wirkung des Comics ebenso steigern wie das effektive Spiel mit Licht und Schatten.
(In ›Baltimore‹ dagegen ist die Bedeutung der Farben noch weiter ikonografisch erhöht: Hier ist die Welt nur noch grau in grau – bis auf das kräftige und unverzichtbare Blutrot).
Von den klassischen Vorbildern des Horrorkinos weicht ›Outcast‹ vor allem in der Gestaltung der Besessenen ab, die sich nur in ihren Blicken, ihren Gesichtsausdruck und ihrer Körperhaltung von normalen Menschen unterscheiden. Keine aufgequollenen Leiber, spitzen Zähne, glühenden Augen oder auf den Rücken verdrehte Gesichter machen den Besessenen kenntlich. Das ist umso unheimlicher, denn letztendlich könnte in jeder der Figuren ein Dämon lauern. Doch während sich die kleine Regan im legendären Film ›Der Exorzist‹ damit begnügt hat, ihr Bett schweben zu lassen, obszöne Flüche auszustoßen und grünen Schleim zu spucken, werden die Besessenen in ›Outcast‹ richtig handgreiflich oder beißen zu. So werden die Exorzismen in diesem Comic zu durchaus brutalen, gewalttätigen Szenen, in denen auch Blut fließt.
Kirkman geht mit diesen Effekten allerdings sparsam um verhindert so deren vorschnelle Abnutzung. Anstatt den Leser mit Gore und Splatter zu überwältigen, setzt er auf psychologische Tiefe und zwischenmenschliche Dramen. Er verleiht dem Thema Exorzismus und Besessenheit das gleiche psychologische Gewicht, als wäre die Geschichte ein Drama über häuslichen Missbrauch – was sie auf einer bestimmten Ebene ja auch ist. Dieser Ansatz, ein altbekanntes Genre nicht postmodern zu verklären, sondern die ihm innewohnende Brutalität ernst zu nehmen, war schon bei ›The Walking Dead‹ eine erfolgreiche Herangehensweise. Der erste Band von ›Outcast‹, ›Im Reich der Finsternis‹, ist ein vielversprechender Einstieg in eine spannende Comicreihe – und gleichzeitig auch schon ein Teaser für die geplante Fernsehserie, die wahrhaftig furchterregend werden könnte…
Rein inhaltlich würde sicher auch ›Baltimore‹ mehr als genug Stoff für eine eigene TV-Serie hergeben, aber die würde wohl eher in ein Effektgewitter ausarten, während ›Outcast‹ wohl auch im Fernsehen gerade durch seinen Realismus in den Bann ziehen wird – unabhängig davon, ob man schon vorher ein Horrorfan war. ›Outcast‹ mag damit eine Art Einstiegsdroge zum Horror sein, ist dabei aber härter als die Vampirjägerstories für die Fortgeschrittenen.
Titelangaben
Mike Mignola, Christopher Golden (Text), Ben Stenbeck (Zeichnungen): Baltimore 1
(Baltimore: The Plague Ships / The Curse Bells / A Passing Stranger and Other Short Stories / Chapel of Bones)
Aus dem Englischen von Frank Neubauer
Ludwigsburg: Cross Cult 2015
576 Seiten, 50 Euro
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Robert Kirkman (Autor), Paul Azaceta (Zeichnungen): Outcast Band 1: Im Reich der Finsternis
(Outcast Vol. 1: Darkness surrounds him)
Aus dem Englischen von Marc-Oliver Frisch
Ludwigsburg: Cross Cult 2015
160 Seiten, 22 Euro
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