Kinderbuch | Jean-Marie Robillard, Marie Desbons: Der Gesandte des Mondlichts
Eine Geschichte, das wissen wir, besteht nicht nur aus Worten. Sie sind nur das Mittel, um beim Lesen Bilder hervorzurufen, Gefühle zu wecken, die Fantasie wirken zu lassen. Die besten Geschichten aber tun mehr, sie lassen dazu noch Töne, Düfte, Geschmäcker entstehen, nie gesehene Farben leuchten. Mit ihnen werden alle Sinne wach. So eine Geschichte ist es, die Jean-Marie Robillard erzählt. Marie Desbons hat die Bilder dafür gefunden. Von MAGALI HEISSLER
Was geschieht, ist schnell erzählt. Sastrawane Mandia, ein weiser Mann, bringt dem Radscha Cokorda Sukawati immer am ersten Tag der Regenzeit eine Geschichte. Die Tradition verlangt das, nie hat der Weise dagegen verstoßen. Der Radscha ist schon ganz neugierig, denn Sastrawanes Geschichten sind etwas Besonderes. An diesem Tag aber ist alles anders. Der Weise bringt keine Geschichte, sondern ein Buch voller leerer Blätter. Der Radscha ist entsetzt und dann sehr ärgerlich. Der Weise aber wäre keiner, könnte er nicht erzählen, was es mit diesem Buch auf sich hat. Und schon entwickelt sich etwas, was eigentlich gar nicht da ist, die Geschichte nämlich.
Traum, Zauber und was die Welt zusammenhält
Papier ist nicht einfach nur beschriebenes Material, sagt Robillard und er macht seinen Standpunkt mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, ganz klar. Die Mittel sind Worte. Er wählt sie sorgfältig, sowohl für Rahmenhandlung wie für die Geschichte in der Geschichte. Es beginnt bei Tagesanbruch, der altgewordene Sastrawane Mandia nimmt sein Morgenbad. Im Palastgarten wartet derweil der Radscha. Wie Robillard die schlichten Vorgänge beschreibt, weckt umgehend die körperlichen Empfindungen. Tau an den nackten Füßen, Duft der Bougainvilleen, ein Ballett roter Karpfen zwischen Seerosenblättern. Sonne und Stein, Wortkunst und Kunstfertigkeit menschlicher Hände spielen ineinander, Natürliches und von Menschen Geschaffenes weisen auf eins: die Harmonie der Welt.
Diese gerät aus den Fugen, als der Weise unverhofft seine Pflicht nicht erfüllt. Dass sie wiederhergestellt werden kann, liegt an einem neuen Blickwinkel, den Sastrawane Mandia eröffnet. Er zeigt auf das eigentliche Wesen der Welt, das Zusammenwirken von Pflanzen, Tieren, Geistern, Göttinnen, den Naturgewalten und den Menschen. Verkleidet in eine Traumgeschichte vom Gesandten des Mondlichts geht es um den Kern, die Schönheit der Schöpfung. Sie heißt es zu erkennen.
Robillard zieht alle Register. Er nennt es mit Namen, die Süße, den Gesang der Kinder, die Liebe, verschiedene Düfte. Er deutet aber auch an. Es gibt zahlreiche Anspielungen auf weitere Geschichten, die sich hinter der verwirrenden Schönheit der Welt verbergen. Geheimnisse, die man entdecken kann, Rätsel, die gelöst werden müssen, man muss nur die Fantasie spielen lassen. Raum ist genug, die Welt ist so groß. Sie reicht bis hinauf über die Wolken, wo selbst eine Göttin von Schönheit und Liebe gebannt ist.
Poesie der Bilder
Nicht nur die Worte sind hier reine Lust, auch die Bilder sind es. Desbons lädt zum Schwelgen ein. Großzügig ist es, mit Flächen, die Weite erzeugen und den Blick zum Schweifen einladen, unterbrochen mit Inseln von Details, die zuerst das Erzählte verdeutlichen und dann poetisch-geheimnisvoll darüber hinausführen. Farben schaffen Atmosphäre und Stimmungen. Grün und seine Schattierungen herrschen auf vielen Seiten. Zartgrün das Wasser des Seerosenteichs, Gelbgrün die Reisfelder, üppiges Grün bekommt einen giftigen Stich, wenn der Ärger den Radscha erfaßt. Karges blaugrau und graubraun ist der Hintergrund für den Baum mit den vermeintlich leeren Blättern, eher ein anderer Weiser in einer anderen Zeit die eigentliche Geschichte darauf entdeckt. Rot prunkt dazwischen, tiefschwarz ist die Nacht, wenn die Eule ihr trauriges Lied singt, die Windgöttin träumt im Wolkenweiß von ihrer Liebe zum Schmetterlingsdrachen.
Mit Gouache gemalt werden die Bilder zu Traumbildern, magisch und realistisch gleichzeitig. Sie sind nicht leuchtend, aber satt und werden immer intensiver, je weiter man beim Betrachten voranschreitet. Wie von dem Klang der Worte kann man sich von den Farben kaum trennen. Noch von den Figuren, den Tieren, den Blüten, Körnchen, Perlen, Tropfen, die schmücken und dennoch direkt zum Erzählten gehören. Die Schöpfung ist nicht zur Dekoration gedacht, sie wirkt, duftet, klingt.
Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass das, was erzählt und illustriert wird, nur vermeintlich eine einfache Geschichte ist. Tatsächlich ist sie höchst vielschichtig, so wie etwa der Tagesanbruch über den Reisfeldern zur Stunde des letzten Froschgesangs, den ein Reiher mit seinem Schnabel aufzeichnet, einfaches und zugleich komplexes Geschehen ist. Wie Werden, Wachsen und endlich Vergehen, die Geschichte, die Sastrawane Mandia seinem Radscha erzählt.
Übersetzt ist Robillards Text ebenso anspruchsvoll wie sinnlich von Tobias Scheffel.
Titelangaben
Jean-Marie Robillard, Marie Desbons: Der Gesandte des Mondlichts (Le messager de clair de lune, 2011).
Aus dem Französischen übersetzt von Tobias Scheffel)
Köln: Tintentrinker Verlag 2015
44 Seiten, 18 Euro
Bilderbuch ab 6 Jahren
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