Bühne | ›Das kleine Schwarze/ The Riot of Spring‹ im Staatstheater Karlsruhe
Es gibt Persönlichkeiten, die durch bestimmte Eigenschaften zu wahren Größen werden und fast so etwas wie Wunder vollbringen. Coco, bürgerlich eigentlich: »Gabrielle«, Chanel (1883-1971), ist so eine. Träumte man sich in Amerika einst vom Tellerwäscher zum Millionär, so arbeitete sie sich aus dem Armenhaus heraus in die gehobene Gesellschaft, innerhalb derer sie sich als Modeschöpferin etablierte. Bis heute kennt man ihren Namen, wenn die Rede auf das »Kleine Schwarze« kommt, ein feminines Damenkleid, oder das Parfüm »Chanel No.5«, das nach ihr benannt ist. Von JENNIFER WARZECHA
1926 kommentierte sie das selbst mit dem Satz »Dieses schlichte Kleid wird eine Art von Uniform für alle Frauen mit Geschmack werden.« Wie es dazu kam, ist aber nicht nur das Märchen vom kleinen, armen Mädchen, das sich durch harte Arbeit, Talent und Fleiß ihren Ruhm und ihre Berühmtheit erarbeitet hatte. Bei Chanel ist es auch ihre lebenslange Hoffnung, endlich ganz mit ihrem Geliebten vereint zu werden. Während dieser Aspekt im 2009 erschienenen Film ›Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft‹ (mit Audrey Tautou in der Titelrolle) als zu langatmig ausgearbeitet kritisiert wurde, kommen in der Karlsruher Ballettinszenierung von Terence Kohler, einst Stipendiat der Tanzstiftung Birgit Keil an der Akademie des Tanzes Mannheim, unter der musikalischen Leitung von Daniele Squeo, nach der musikalischen Vorlage von Igor Strawinsky, Alfred Schnittke, John Stepan Zamecnik, Tolchard Evans und Harry Tilsley, leider beide Aspekte zu kurz.
Weder über den steilen Weg ihrer Karriere, noch über ihre privaten Sehnsüchte erfährt der Zuschauer viel. Stattdessen wird er mit einer zweiteiligen Geschichte konfrontiert: der angedeuteten Lebens- und Schaffensgeschichte der Modeschöpferin Coco Chanel im mit ›Das kleine Schwarze‹ betitelten 1. Akt und derer ihres Zeitgenossen und Komponisten Igor Strawinsky (1882-1971) im Zeichen seiner Schöpfung, des Aufführungsskandals ›Le Sacre du Printemps‹, im mit ›The Riot of Spring‹ betitelten 2. Akt. Auch diese beiden Dimensionen der Geschichte Coco Chanels täuschen nicht darüber hinweg, dass trotz der hervorragenden Musik, des lebendigen Tanzes und der detailreichen Choreographie der Inhalt doch ein wenig zu kurz kommt.
Nun muss man dem Format Ballett zugestehen, dass ihm im Gegensatz zum Schauspiel beispielsweise eine Mehr-Beachtung der Qualität von Tanz, Mimik, Gestik und Körperlichkeit gebührt, mehr als dem Inhalt unter Umständen. Fraglich ist nur, inwieweit der unbeteiligte Zuschauer ohne vorherige Kenntnis des Inhalts des Programmhefts bzw. des Kontexts der Biographien der beiden Hauptdarsteller Coco Chanel (elegant, erotisch, selbstbewusst: Bruna Andrade/Rafaelle Queiroz) und Igor Strawinsky (ebenso elegant und insgesamt überzeugend: Ed Louzardo/Arman Aslizadyan/Zhi Le Xu) der Handlung des Balletts folgen kann. Sagen ihm die als »Geister der Zeit« betitelten grazilen und tänzerisch durchaus überzeugenden Tänzer etwas Aussagekräftiges, die in beiden Akten im Sinne der Mauerschau im klassischen griechischen Theater auftauchen und immer wieder an kritischen Punkten zu sehen sind – zum Beispiel dann, wenn Coco sich in erotischer Haltung an Igor herantanzt, dessen Frau aber direkt links davon auftaucht und ihn besitzergreifend an der Taille umfasst? Oder wenn eben diese Geister, nun sogar als »ewige Geister der Zeit« bezeichnet, kurz nachdem sie Eisblöcken ähnelnde und mit Buchstaben versehene Steine aufgestellt haben, mit dem sogenannten ›Danse sacrale‹ in der achten Szene des 2. Akts die Aufführung beschließen?
Dabei hilfreicher ist auf jeden Fall der Verlauf des 2. Aktes, in dessen Zentrum die Aufführung von Strawinskys Lebenswerk ›Le Sacre du temps‹ steht. Nicht nur die tänzerische und darstellerische Leistung, samt Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Jordi Roig) aus gezeichneten Felsburgen, überzeugen hier. Auch der interaktive Teil kommt gut beim Publikum an. Als sich eine der Haupttänzerinnen zum Abschluss ihres Tanzes auf der Bühne niederlegt und die anderen Tänzer sie auf ihre Schultern erheben, kommen Buhrufe aus dem Publikum und das Licht geht an – in Entsprechung zur Realität der Erstaufführung von Strawinskys Werk. Zuschauer, die bereits vorher durch ihre zeitgemäße Kleidung für Aufsehen gesorgt haben, gehen in den Zuschauergraben des Orchesters und kurz danach auf die Bühne und integrieren sich damit letztendlich in die Ballettaufführung.
Zauber der Aufführung gerade durch die Vielgestaltigkeit der Elemente
Aber auch die tonale Einspielung der Gedanken Igor Strawinskys zum Stück, zusätzlich zu den eingespielten Texten in Deutsch auf der Leinwand, leiten den Zuschauer an, in die Welt von Modeschöpferin und Komponist einzutauchen. Wie es aber manchmal ist bei Ballettstücken, die als Handlung so gewaltige Themen wie die Biographien zweier herausragender Persönlichkeiten zur Schau stellen, bleibt es letztendlich dem Publikum und dessen Fähigkeit der Fantasie, Kombination und des Verständnisses überlassen, was es selbst daraus macht. Nicht nur die Wichtigkeit und Größe des Karlsruher Ballettensembles, mitsamt der musikalischen Unterstützung durch die Mitglieder der Badischen Staatskapelle, machen ›The Riot of Spring‹ dennoch zum Erfolg. Auch der nicht endend wollende Applaus, der die Darsteller immer wieder auf die Bühne des Großen Hauses ruft, ist es, der beweist: Die Geschichte der Coco Chanel ist noch nicht fertig geschrieben. Sie kann nur bei jeder Aufführung immer wieder neu erlebt und fortgeschrieben werden.
| JENNIFER WARZECHA
| FOTOS: JOCHEN KLENK
Titelangaben
›Das kleine Schwarze/ The Riot of Spring‹ im Staatstheater Karlsruhe
von Terence Kohler
Musik: Igor Strawinsky, Alfred Schnittke, John Stepan Zamecnik, Tolchard Evans & Harry Tilsley
Musikalische Leitung: Daniele Squeo
Choreografie, Inszenierung & Film Terence Kohler
Bühne und Kostüme: Jordi Roig
Dramaturgie: Silke Meier
Termine
Sonntag, 10.01., 19:00-21:00
Sonntag, 07.02., 19:00-21:00
Sonntag, 06.03., 15:00-17:00
Sonntag, 20.03., 19:00-21:00
Freitag, 01.04., 20:00-22:00
Donnerstag, 12.05., 20:00-22:00
Donnerstag, 19.05., 20:00-22:00
Freitag, 10.06., 20:00-22:00