Krimi | Leonhard F. Seidl: Viecher
Leonhard F. Seidl legt im neuesten Krimi so richtig los. Und auch sein Privatdetektiv Freddie Drechsler gerät in seinem zweiten Fall richtig in Fahrt. Im wahrsten Sinne des Wortes darf er mal richtig die Sau rauslassen, pardon, den Stier an den Hörnern packen. Viecher ist wie schon Genagelt (2014) wieder ein extrem mörderischer, zugleich bajuwarisch burlesker Text – eine Mischung aus gewohntem tiefschwarzen Politsumpf und tierischem Vergnügen. Von HUBERT HOLZMANN
Wie man es von Leonhard F. Seidl kennt, versucht er in seinem Isental-Krimi natürlich die üblichen Klischees zu durchbrechen und das typische Krimiszenario zu vermeiden. Seidl erzählt gewohnt flott und sehr unterhaltsam. Nie langatmig, dozierend. Lässt seine Personen nie über lokale Küchenspezialitäten schwadronieren oder sonstige Bräuche erklären. Sein Held Drechsler genießt dann lieber schon selbst. So im Nebenbei fällt dann auch ein Stück des Bratens für den Leser ab.
Sein Schreibstil erinnert schon eher an ein rasant konzipiertes Drehbuch: Ein paar Anmerkungen zum Landstrich und zur Kulisse genügen, hier noch einige Regieanweisungen, und das idyllische Isental nicht unweit im Osten von München entsteht vor den Augen des Lesers. Und schon beginnt ein flotter Dialog über Drechslers aktuelle Situation als alleinerziehender Vater oder über andere diverse Seelenzustände, was nicht nur seinen Gegenüber im Roman (meist weiblich) in dessen Bann zieht. Dass Drechsler manchmal auch politisch wird und seine Meinung gegen die dritte Startbahn des Münchner Flughafens abgibt oder das politische Kabarett bei der Genehmigung eines Golfplatzes enttarnt.
Der durchbohrte »Nazi«
Am Rande geht es in diesen Befragungen, Gesprächen, Lamentos auch um den Fall. Konkret wurde in Viecher der Bauer Nazi von seinem Zuchtstier Aldi auf die Hörner genommen und dabei getötet. Die Polizei sieht die Unfallversion von Ignaz Luidinger, wie er mit vollem Namen heißt, schnell bestätigt. Die Ehefrau jedoch glaubt an Mord. Und genau hier beginnt der Spezialeinsatz von Freddie Drechsler, der diese oberbayerische Gegend wie seine Westentasche kennt.
Denn nicht nur Deichslers Eltern wohnen in dieser Gegend, der Vater ist ermittelnder Hauptkommissar, es gibt außerdem seine Ex, zahlreiche andere Verflossene, ein paar schwule Kumpels von früher, die in einer Wagenburg leben, und natürlich zwei Söhne. Der eine ist noch recht klein, der andere, Paul, ist jedoch bereits ein junger Mann. Drechsler hat ihn nach seinem Umzug nach Nürnberg eigentlich vollkommen aus den Augen verloren. Grund dafür ist auch, dass Paul mittlerweile von seiner Mutter ausgezogen ist und als Aussteiger mit Rasta-Frisur seine eigenen Wege geht. Er kämpft als Aktivist in einer ziemlich alternativen Szene gegen die Bedingungen in der Tierhaltung. Und dabei arbeitet Paul nicht nur mit legalen Mitteln. Ganz wie sein Vater also, denkt man sich, wenn man bereits den ersten Krimi gelesen hat.
Immer auf die Habenichtse
In Seidls Texten prallen immer diese unterschiedlichen Welten aufeinander, die scheinbar harmlose Bürgerwelt, die »Großkopferten«, die im Geheimen oft genug mit sehr dubiosen Methoden arbeiten, und die so genannten kleinen Leute, die um das, was sie besitzen, gebracht werden sollen. Diesmal sind es also die kleinen Landwirte, die von ihren Betrieben kaum mehr leben können, die von den mafiösen Tierhändlern, Veterinären und Fleischhändlern ausgebeutet werden, und daher einer nach dem anderen ihre Höfe zu Spottpreisen verkaufen.
Dass dieser Gegensatz Spannungen aufwirft, vor allem weil auf allen Seiten mit mehr oder weniger sauberen Mitteln gearbeitet wird, ist zu erwarten. Und dass vor allem auch der Privatermittler Freddie Deichsler genau weiß, wie er in jedes Fettnäpfchen tritt, ist klar. Eigentlich hat er auch nichts zu verlieren. Obgleich er manches seiner Abenteuer nur knapp lebend übersteht. Auf ihn wird geschossen, Autofahrten enden neben den Wegen usw. Wie man sich leicht denken kann, geraten Deichsler und auch sein Sohn Paul bald in Schwierigkeiten, werden selbst Ziel neuer polizeilicher Ermittlung und so wird es eng für freie Ermittlungen.
»Einmal um die ganze Welt«
Als Deichslers Sohn sogar schon recht bald unter dringendem Mordverdacht steht, wird es brenzlig für den Vater und er muss handeln. Wie immer zieht er alle Register, wie immer auf eigene Faust. Und auch diesmal geht es ganz schön zur Sache. Zum einen sind alle die alten Bekannten aus Genagelt wieder mit von der Partie, etwa Annamirl, eine frühere Flamme, die Deichsler aus der Patsche hilft, ihm Unterschlupf gewährt oder einen Schlitten für ihn bereit hält. Oder er fährt zu Erkan, einem schwulen Freund, der mittlerweile allein in der Wagenburg lebt.
Logischerweise ist Seidl gezwungen, diese alten Charaktere aus Genagelt noch einmal kurz einzuführen. Rückverweise auf den Erstling sind unausweichlich. Auch wiederholt sich so manches lokale Stereotyp aus der oberbayerischen Lebenswelt. Hier geht er mit der typischen Lokal-Krimiliteratur d’accord. Das liegt ja nicht zuletzt an diesem Genre der Unterhaltung.
Tour de Force – On the Road again
Seidl wird seinen Helden in Viecher – so bodenständig der Titel auch klingen mag – auf noch größere Tour schicken. War der Erstling Genagelt ein echt oberbayerischer Road-Krimi, der über Stock und Stein, über Kuhweiden, die es auch diesmal gibt, und Maibaumplätze, in urige Wirtshäuser und düstere Friedhofgrüfte führte, sprengt Seidl diesmal den kleinen Rahmen deutlich: Denn Deichsler kommt einem international agierenden Tierhändler auf die Spur. Tja, auch das Land ist längst von neoliberalen Auflösungstendenzen bedroht. Und wie man in Viecher sehen kann, nicht zu knapp. Also steigt der Ermittler kurzerhand auf einen Truck, der nach Tunesien unterwegs ist.
Was das aber alles mit den verschiedenen verblichenen Landwirten zu tun hat – und etwa auch mit der innig intensiven Beziehung zwischen Nazi und Aldi –, mit einem zuständigen Veterinär, der in die korrupten Machenschaften mit verwickelt scheint, mit diversen Lokalpolitikern oder ortsansässigen Baufirmen, muss noch offen bleiben. Verdächtig machen sich alle. Einem der Saubermänner fühlt Deichsler in einem Swingerclub auf den Zahn. Spätestens als ein CSU-Politiker tot auf einer Autobahnbaustelle aufgefunden wird, scheint alles möglich. Nur so nebenbei: Dass auch ein norddeutscher Forscher spurlos verschwindet, das interessiert im Bayern Leonhard Seidls kurioserweise niemanden. Die Polizei schon gar nicht.
Trotz großer Spannung und wilder Aktionen steht der Leser vor einer ziemlichen Herausforderung. Vielleicht liegt es ein bisschen an der Beliebigkeit, mit der Seidl und sein Ermittler Deichsler zwischen den Welten hin- und herspringen, überall und nirgends zuhause sind und doch immer auf eine heiße Spur treffen. Deichsler schaut dabei jedenfalls manchmal ziemlich alt aus der Wäsche. Seine alkoholgeschwängerten Nächte, seine wilden Autofahrten und die Blessuren bei Schlägereien steckt er nicht mehr so leicht weg. Manchmal gar ist seine Arbeit eine arge »Viecherei«, denkt man an die Stelle im Stall: »Plötzlich hörte Deichsler es plätschern und spürte gleich darauf etwas Warmes auf seinem Rücken. Er richtete sich auf und drückte sich zwischen den warmen Kuhleibern hindurch. ’Mir bleibt aber auch nix erspart. Vielleicht ist die flüssige Wärmepackung ja gut für meine Bandscheibe.’«
Uns bleibt also nichts erspart. Da müssen wir durch mit Freddie Deichsler. So ist Bayern! Leonhard F. Seidls Viecher würde sich gut als bayerischer Polizeiruf machen. Und am Schluss gilt dann doch die Devise: Ende gut, alles gut. Warten wir auf den dritten Band.
Titelangaben
Leonhard F. Seidl: Viecher
Köln: Emons 2015
256 Seiten. 9,90 Euro
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