Comic | Léo Henry (Text), Stéphane Perger (Zeichnungen): Sequana
Im Januar 1910 tritt nach schweren Regenfällen die Seine über die Ufer; ein Dutzend Arrondissements stehen für Wochen unter Hochwasser. Vor dem Hintergrund dieses Ereignisses erzählen der Schriftsteller Léo Henry und der Comickünstler Stéphane Perger von einer ungleichen Schicksalsgemeinschaft und schenken der neunten Kunst einen wunderbar stimmungsvollen historischen Roman. BORIS KUNZ über das Album ›Sequana‹ aus dem Splitter-Verlag.
Lebens- und Flussläufe
Es sind Figuren und Schicksale, die einem Roman von Victor Hugo entsprungen sein könnten: Jean Faure, ein ehrlicher und aufrichtiger Verwalter einer Obstplantage, erschießt infolge eines tragischen Missverständnisses den Bruder des Plantagenbesitzers und muss als gesuchter Mörder in Paris untertauchen. Bei einer unglücksseligen Kneipenschlägerei gerät er zwischen die Fronten sozialistischer und nationalistischer Schlägerbanden und dadurch schließlich in die Hände der Medizinstudentin Alice Treignac. Alice ist die Tochter eines anerkannten Arztes und hat sich in den Kopf gesetzt, als eine der ersten Frauen in der Geschichte Frankreichs Ärztin zu werden. Sie ist eine aufrichtige und streitbare Person, die entgegen aller guten Ratschläge der Männer um sie herum unbeirrbar ihren eigenen Weg geht und sich nicht einmal vom Papst persönlich davon abbringen lassen würde, das zu tun, was sie für richtig hält.
Dass sie Jean Faures Platzwunde verarzten wollte, könnte sich schon bald als der größte Fehler ihres Lebens herausstellen, denn bald wird sie zu einer Geisel Faures auf seiner Flucht durch das überflutete Paris. Die über die Ufer getretenen Wasser spülen Alice und Faure schließlich in das Haus des Monsignore Chelles, eines wichtigen Pariser Kirchenoberen. Diese vermeintliche Zuflucht wird sich bald auf tragische Weise als schicksalhafte Falle entpuppen, denn der alte Monsignore hat ein wohl gehütetes Geheimnis: einen Gehirntumor, der bei ihm Attacken von Blindheit und Wahnvorstellungen auslöst. Eine der Stimmen, die Chelles zu hören glaubt, gehört Sequana, der Göttin der Seine-Quellen. Sie ist es, die den Fluss über die Ufer treten ließ, die halbe Stadt lahmlegt und ins Chaos stürzt, um damit jene Ereignisse auszulösen, die die Schicksale von Faures, Alice und Chelles (sowie einer ganzen Reihe weiterer hochrangiger Stadtoberer, Kleinganoven, politischer Aktivisten und Kleriker) untrennbar miteinander verknüpfen.
So lässt Autor Léo Henry konsequenterweise am Anfang und am Ende seiner Geschichte immer wieder Sequana selbst als allwissende Erzählstimme zu Wort kommen, um dem Geschehen eine mythologische Dimension hinzuzufügen. Dazwischen funktioniert der Comic als breit angelegter, melodramatischer Roman ebenso wie als facettenreiches Zeitporträt einer Gesellschaft im temporären Ausnahmezustand (der nur ein kleiner Vorgeschmack sein sollte für den wenige Jahre darauf folgenden globalen Ausnahmezustand des Ersten Weltkriegs). Verbürgte Geschehnisse während des Hochwassers, wie die Sprengung von Brücken, an denen der Fluss zu stark aufgestaut wurde, Straßenkämpfe um Lebensmittel oder die Evakuierung eines Gefängnisses werden dabei geschickt in die Erzählung eingeflochten. Allerdings arbeitet sich Henry nicht im Geiste eines Katastrophenfilms an solchen Stationen ab, sondern nutzt den Hintergrund des historischen Hochwassers für seine ganz eigene Geschichte, die mühelos zwischen altbackener Räuberpistole und modernem Gesellschaftsdrama changiert.
Aquarelle vom Untergang
Aber was für ein Hintergrund für einen Comic! Als wäre das Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht ohnehin schon ein gefundenes Fressen für einen Zeichner wie Stéphane Perger (der in ›Scotland Yard‹ bereits das ausgehende viktorianische Zeitalter in London wunderbar in Szene gesetzt hat)! Aber diese Stadt in einem morbiden Zustand eines Beinahe-Untergangs? Die Schächte der gerade erst voller Stolz errichteten Metro halb überflutet, die Pariser Bahnhöfe und die Fundamente der weltberühmten Kathedrale von Notre Dame vom Wasser eingeschlossen, improvisierte Holzstege und von Baum zu Baum gespannte Telefonleitungen, mit denen die Menschen versuchen, der in ihre moderne Metropole hereinbrechenden Natur zu trotzen, Verfolgungsjagden mit dem gerade erst in Mode gekommenen Automobil durch halb überschwemmte, halb verschneite Straßen: Was für einen schöneren Spielplatz könnte sich ein Comicillustrator wünschen? Perger kann aus dem Vollen schöpfen, um Henrys Erzählung mit zahlreichen Details historischer Authentizität und gleichzeitig mit apokalyptischen, stimmungsvollen Hintergründen einen fast märchenhaft-morbiden Flair zu verleihen.
Immer im Dienst der Geschichte hebt sich Perger die monumentalen Bilder für besondere Momente auf. Oder für jene Passagen, die von der Flussgöttin Sequana erzählt werden. In den meisten Sequenzen ist der Comic aus klassischen, statischen Panels aufgebaut, aus denen Perger nur dann ausbricht, wenn die Story es hergibt: Bei der Flucht durch die Kanalisation etwa geben nicht mehr rechte Winkel, sondern die runden Lichtkegel der Gaslaterne auf den Tunnelmauern die Panelrahmen vor, und während einer wilden Messerstecherei im Wasser lässt der Zeichner die Bilder förmlich um den Leser herumwirbeln, als wollte er ihn mit hinein ziehen in den Strudel der Gewalt. Selten aber passiert es Perger auch, dass seine Perspektivwechsel den Leser ausgerechnet in eher actionreichen Passagen etwas verwirren und daher das Lesetempo reduzieren.
Sein expressivstes (und dabei gleichzeitig oft subtilstes) Stilmittel aber bleibt die Farbgestaltung. Perger koloriert seine Zeichnungen mit aufwendiger Aquarellierung und variiert dabei gekonnt die Farbpalette, die je nach Szenerie sehr reduziert ist, aber nur selten eine ausgestellte Künstlichkeit annimmt. Erst wenn gegen Ende ein paar Bilder aus exotischen Ländern in knalligen Farben auftauchen, registriert man als Leser, wie grau und trist das winterliche Paris eigentlich gewesen ist.
In ›Sequana‹ zeigt sich wieder einmal beispielhaft, wozu das Medium Comic fähig ist: Kaum bekannte aber ungleich faszinierende historische Ereignisse können aufgegriffen werden und als Hintergrund für Erzählungen dienen, die sich trotz einer sehr aufwendigen und fast schon monumentalen visuellen Ebene eine unkonventionelle Dramaturgie leisten können, in der auf übliche Heldenklischees (weitgehend) verzichtet werden kann. Abgerundet wird diese über 150 Seiten starke Gesamtausgabe durch liebevoll gestaltetes Bonusmaterial, das die historischen Hintergründe der Erzählung noch einmal erweitert.
Titelangaben
Léo Henry (Text), Stéphane Perger (Zeichnungen): Sequana
(Sequana: Integrale)
Aus dem Französischen von Swantje Baumgart
Bielefeld: Splitter Verlag 2015, 168 Seiten, 29,80 €
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