Mit dem autobiographischen Comic ›Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens‹ feierte Ulli Lust ihren internationalen Durchbruch. Nun erschien der erste Band ihrer zweibändigen Sachcomic-Reihe ›Die Frau als Mensch‹ bei Reprodukt. Er bricht mit dem verbreiteten Bild steinzeitlicher Gesellschaften, in denen keulenschwingende Männer den Erhalt der Gruppe sichern, während Frauen sammeln, gebären und den Nachwuchs hüten – und schafft dabei so manche Aha-Momente. Von CHRISTIAN NEUBERT
»Ork.« »Bölk Bölk.« »Grunz.« »Schnauze!«: Dieser Dialog hat sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt. Er stammt aus einem Band der Comic-Agenten ›Clever & Smart‹, der einen Blick in eine steinzeitliche Gesellschaft gewährt – und glasklar das in ein dunkles Fell gehüllte, keulenschwingende Alphamännchen kennzeichnet. Nicht in mein Gedächtnis verankert hat sich stattdessen das Ende der ersten Episode der Zeichentrickserie ›Es war einmal … der Mensch‹, das ich viele Jahre später mit Erstaunen zur Kenntnis nahm: Zwei paarungswillige Männchen der Gattung Homo Sapiens schleifen zwei Weibchen zum Zwecke der Begattung an den Haaren fort – denn, wie es da frei nach Goethe heißt: »Das ewig Weibliche zieht man sich ran.«
Das hat gesessen. Wie eben auch das Bild festsitzt, das wir gemeinhin von Steinzeitmenschen haben. Männer sind Jäger, Frauen Sammler – und der Urzustand ist ein Kampf jeder gegen jeden. Obgleich bekannt ist, dass all dies reichlich spekulativ ist, wird meistens der Mann als treibende Kraft der Menschheitsgeschichte herausgestellt, während Frau zu Hause in der Höhle bleibt, um sich der Brutpflege und anderem Weiberkram zu widmen.
Jägerinnen und Sammlerinnen
Dabei haben die Höhlenmenschen doch kaum in Höhlen gelebt – sagt Ulli Lust, eine der bedeutendsten Comic-Schaffenden des deutschsprachigen Raums, mit Blick auf bekannte Forschungsergebnisse. Mit ihrem neuen Werk wird die Künstlerin zur Bilderstürmerin. Der erste Band ihres auf zwei Bände angelegten Sachcomics ›Die Frau als Mensch‹ räumt mit Geschlechterklischees und einseitigen Frauenbetrachtungen auf und rüttelt fest an der modernen Mär von der natürlichen Überlegenheit des Mannes. Nicht jedoch mit zornig-spöttischem Sarkasmus wie ihre schwedische Kollegin Liv Strömquist, sondern mit Neugier, Verwunderung und Wehmut. Gedanklich ausschweifend, Fragen stellend, Denkanstöße gebend und Zusammenhänge knüpfend.
Wenn der Mann für das Überleben steinzeitlicher Gruppierungen so bedeutsam war: Warum übersteigen Darstellungen von Frauen unter den paläolithischen Artefakten Männerdarstellungen um ein Vielfaches? Warum ist ausgerechnet die erste bekannte Darstellung einer Frau, die ihre Geschlechtsmerkmale züchtig verdeckt, eine Liebesgöttin? Warum ging man zu Unrecht davon aus, dass es sich bei besonders aufwendig bestatteten Urmenschen stets um Männer handelte? Und warum schlichen sich Gewaltdarstellungen erst vor rund 7.000 Jahren in den Bilderschatz der Menschheitsgeschichte?
Verdichtung und Wahrheit
Der erste Band von ›Die Frau als Mensch‹ ist eine kunstvoll komprimierte, intensive Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Erbe der Steinzeitmenschen. Und mit Archäologie, Anthropologie, Ethnologie, Staatstheorie und Verhaltensbiologie, festgehalten mit erdigen Tönen in einem zweckmäßigen, schön anzusehenden Mix verschiedener grafischer Erzählmethoden.
Kindheitserinnerungen und persönliche Erfahrungen der Autorin treffen in dem Comic auf übergangene Deutungsmöglichkeiten von archaischen Bestattungsritualen, Glaubensmuster indigener Gesellschaften auf Höhlenmalereien und Bonobos auf Schimpansen – mit dem Ziel, neue Perspektiven auf Sachverhalte zu werfen, die zwar wissenschaftlich anerkannt, aber kaum verbreitet sind. Denn, um es mit der von Ulli Lust zitierten amerikanischen Forscherin Sarah Blaffer Hrdy zu sagen: »Der Homo Sapiens wäre nie entstanden ohne die besondere Verbindung von Empathie und Kognition.« Schau mal einer an.
Titelangaben
Ulli Lust: Die Frau als Mensch
Berlin: Reprodukt 2025
256 Seiten. 29 Euro.
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