Comic | Hubert / Gatignol: Petit
Mit ›Petit‹ entwirft Comicautor Hubert ein grimmiges Antimärchen zwischen ›Hans und die Bohnenranke‹ und ›Der Kleine Däumling‹. Zeichner Bertrand Gatignol findet für den Band schaurig-schöne Bilder, Rezensent CHRISTIAN NEUBERT lobende Worte. Grund für verhaltenen Tadel allerdings auch.
Auf einem Berg thront eine Festung. Eine Gesellschaft sitzt dort zu Tisch. Man speist, labt sich an der gedeckten Tafel, die Gesichter dabei zwischen grimmig und debil. Erst auf den zweiten Blick erkennt man: Zum Essen wird Mensch gereicht. Mensch in unterschiedlichen Zubereitungsformen. In Aspik oder am Spieß. Fingerfood für die riesenhaften Bewohner.
Eine der Anwesenden, eine Dame mit deutlich sanfteren Gesichtszügen als die der anderen, fühlt sich etwas unwohl. Ihr steht eine Geburt bevor. Anscheinend früher als erwartet, weil: Jetzt. Ehe sie es sich versieht, ist das Baby geboren. Reibungslos, nahezu unbemerkt. Was kaum verwundert, ist Ihr Neugeborenes doch von zwergenhafter Größe. Es ist gerade einmal so groß wie ein Menschenbaby. Lächerlich. Dabei sollte es doch der Thronfolger dieser Riesendynastie werden. Am besten, man frisst es direkt weg, als kleine willkommene Mahlzeit zwischen den Gängen. Die plötzliche Mutter kommt den gierigen Fingern der anderen zuvor: Sie habe die vermeintliche Missgeburt selbst gefressen.
Fressen und gefressen werden
Stattdessen bringt die junge Mutter das Kind – es ist ein Junge, sie nennt ihn Petit – zu ihrer Tante. Diese gutherzige Riesendame fiel einst in Ungnade, weil sie es für falsch hält, sich von Menschen zu ernähren. Stattdessen bevorzugt sie es, Menschen mit Respekt zu begegnen. Dies macht sie zur Persona non grata. Als Verstoßene lebt sie isoliert in einem einsamen Winkel der gewaltigen Festung. Dort wächst schließlich auch Petit heran, ohne dass der Riesenkönig von seiner Existenz weiß. Mit zunehmendem Alter erkundet er diese von Mauern umgebene Welt. Zum Beispiel die Farmen, auf denen Menschen zum Verzehr und als Arbeitskräfte gezüchtet werden. Es ist eine grausame Welt, in der man frisst oder gefressen wird, was sich auch auf die menschlichen Bediensteten fortsetzt.
Derweil verfolgt auch Petits Mutter düstere Absichten: Sie möchte ihren Sprössling als Mittel zum Zweck gebrauchen, ihn verkuppeln, als Heilmittel einer inzestuösen, degenerierten Dynastie gebrauchen. Petit wird zum Spielball divergierender Interessen. Dabei sollten doch gerade – er ist hier doch das Kind – seine Interessen von Belang sein.
Ein Werk von Größen ihrer Fächer
Die Eltern als riesenhafte Über-Figuren, die Gefahr, vom eigenen Fleisch und Blut verschlungen zu werden, die Suche nach Identität, die Erlangung eines autonomen Ichs inklusive sexueller Selbstbestimmung: Der grimmige, grimmsche Märchenplot lässt sich, wie es sich eben für Märchen gehört, zum psychoanalytischen Gesellenstück münzen. Indem er von Bertrand Gatignol in scharf umrissenen, schaurig-schönen, eventuell mangaesken Bildern festgehalten ist, wird er zudem zu einem morbiden Fantasy-Comic in wenigen Graustufen.
Zwischen den einzelnen Comic-Kapiteln gibt es übrigens Prosa-Einschübe, die die Genealogie des Riesengeschlechts nachzeichnen. Sie verleihen dem Band eine Vielschichtigkeit und Tiefe, die über das Schwarz-Weiß der Märchenwelt hinausreicht. Das infernalische Ende wirft den Comic jedoch genau dorthin zurück. Das schmälert den positiven Eindruck des Comics zwar nicht allzu deutlich. Es ruft allerdings ins Gedächtnis zurück, dass Hubert z.B. mit ›Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An‹ und ›Schönheit‹ schon Werke inszenierte, die mehr von seiner Meisterschaft zeugen – bei ähnlich gearteten Motiven, denn auch dort geht es um individuelle Selbstbestimmung und den Druck, der von gesellschaftlichen Normen ausgeht.
Titelangaben
Hubert (Story) / Bertrand Gatignol (Zeichungen): Petit
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
Berlin: Reprodukt 2015
176 Seiten. 29 Euro
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