Zeitreise

Kinderbuch | Alice Melvin: Omas Haus

Ein kleines Mädchen besucht ihre Großmutter. Der Rundgang durchs Haus wird zu einer Begegnung mit einer anderen Zeit. Von ANDREA WANNER

Alice Melvin Omas HausNach der Schule führt der Weg der Ich-Erzählerin oft direkt zum Haus der Oma. Die Schultasche auf dem Rücken öffnet sie das Gartentor, überquert den Rasen vorbei an einem blühenden Rhododendronbusch und betritt über einen kleinen bedachten Vorbau das offenstehende Haus mit den Jugendstilfenstern. Die Suche nach der Oma im Inneren des Hauses führt sie durch alle Räume von der Küche übers Wohnzimmer und Arbeitszimmer, die Treppe hinauf auf den Dachboden, wieder hinunter in den ersten Stock ins Schlafzimmer und ins Bad und zurück ins Erdgeschoss durch den Flur und den Wintergarten hinaus in den Garten, wo die Oma schon auf sie wartet.

Alice Melvin hat das als wunderbares, begehbares Puppenhaus gestaltet, mit ausgeschnittenen Türöffnungen, die bereits einen Blick in den nächsten Raum ermöglichen. Die Seite mit dem Speicher lässt sich außerdem aufklappen, sodass eine fast vier Mal buchseitengroße Ansicht entsteht. Dabei wird der Rundgang durch das großmütterliche Haus zu einer ganz besonderen Entdeckungsreise. Was dieses Besondere ist, formuliert die Kleine gleich zu Beginn: »Nach der Schule geh ich oft zu Oma nach Haus. Bei ihr ist alles ganz anders, doch sieht es immer gleich aus …« Es sind die Einrichtungsgegenstände, die Dinge des täglichen Lebens, die einer anderen Generation, der der Großeltern angehören. Diese Objekte werden in ihrem ursprünglichen Zusammenhang gezeigt und haben doch einen fast musealen Charakter. Sie sind eng mit Gefühlen verbunden und haben teilweise beinahe symbolhaften Charakter. Darüber hinaus erzählen sie Geschichten.

Ebenso akribisch wie liebevoll hat Melvin einen Blick für Details, sammelt auf ihren Illustrationen Artikel unterschiedlichster Art und lässt Neugierde entstehen. Was gibt es in modernen Wohnungen noch genauso und hat sich dennoch irgendwie verändert? Was kennen Kinder von heute gar nicht mehr? Inwieweit ist Wohnen der Mode unterworfen, den Eigenheiten der Bewohner, der Kultur? Je länger man schaut, desto mehr entdeckt man.

Die Hinweise auf besondere Dinge sind in den kurzen, gereimten Text eingestreut. Das kleine Milchkännchen in Kuhform zum Beispiel, in dem immer Milch für das Mädchen ist. Die Sammlung mit den Ballerinen, die in einer Vitrine aufgereiht sind. Und natürlich die Dinge auf dem Dachboden, die in eine Vergangenheit zurückweisen, in der die Großmutter selbst noch jung war, mit ihrem Puppenhaus spielte oder auf dem Schaukelpferd ritt.

In diesem Haus hat die Badewanne noch Füßchen und es duftet im Bad nach Puder. Das Telefon ist rot und besitzt eine Wählscheibe. Um die große Standuhr aufzuziehen, braucht man einen Schlüssel. Erinnern und bewahren geschieht in diesem Bilderbuch ganz anschaulich und unaufdringlich in detailreichen Bildern, die doch jeden Gegenstand für sich wirken lassen.

In ihrem Nachwort erzählt Alice Melville, Jahrgang 1982, von ihrer eigenen Großmutter und den Dingen, die sie zu diesem Buch inspirierten. Voller Zärtlichkeit erinnert sie sich an eine kreative Frau, von deren Leidenschaften und Fähigkeiten viel in den Bildern zu entdecken ist, wenn man genau hinschaut. Es ist ein Buch, in dem man bei jedem Betrachten mehr entdeckt. Es weckt Erinnerungen an eigene Erlebnisse. An Räume, die man kennt und mit bestimmten Personen verbindet. An Gegenstände, die einem für immer im Kopf bleiben, und deren Bedeutung weit über das Ding an sich hinausgeht. Und ganz nebenbei erzählt das Buch von einem besonderen Tag, der mit einem blauen Luftballon am Gartentörchen als erstem Hinweis beginnt und mit einer ganz besonderen Überraschung im Garten endet.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Alice Melvin: Omas Haus
(Grandma’s House, 2015) Aus dem Englischen von Susanne Weber
München: Kunstmann 2016
32 Seiten. 19,95 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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