Die Beschäftigung ist das Leben selbst

Roman │ Bov Bjerg: Auerhaus

Lebensbejahend tödlich, melancholisch fröhlich, bunt trist: Bov Bjerg zeichnet mit ›Auerhaus‹ ein Bild jugendlicher Sehnsucht nach Entfaltung, Freiheit und Anarchie. Die Geschichte über sechs Jugendliche, die gemeinsam unter einem Dach und mit eigenen Regeln leben und dem Ende der Schulzeit und zugleich dem Ende eines Lebensgefühls entgegenschreiten, spricht von Gegensätzen und schafft es, diese in eine träumerisch illusorische Harmonie zu bringen. Von TOBIAS KISLING

Bov Bjerg - Auerhaus Roman»Und wenn einem auf einmal der Sinn des Lebens klar wurde, dann war das der beste Witz überhaupt«. Der Sinn des Lebens, wieder einmal aufgegriffen in einem Roman. Dieses Mal in ›Auerhaus‹. Und doch ist bei diesem Roman alles anders. Bov Bjerg hat das Talent, die zentrale Frage des Lebens nüchtern zu verklären (»Ihr sucht doch dauernd nach dem Sinn. Hier, Suchscheinwerfer. Könnt ihr überall suchen damit«), sie in Räumen greifbar zu machen, festzuhalten und wieder entschwinden zu lassen. Auf 240 Seiten gelingt es Bjerg, dessen bürgerlicher Name Rolf Böttcher ist, seine Leserschaft mit auf eine beschwingte und lebensfrohe Reise mit einem tieftraurigen Hintergrund zu nehmen.

Vom Suizid-Versuch zur Jugend-WG

Das letzte Schuljahr ist angebrochen, irgendwo in einem kleinen Dorf in einem entlegenen Winkel Westdeutschlands in den frühen 1980er Jahren. Das Leben nimmt seinen Lauf, Klausuren, die erste Liebe, der Wunsch nach Abenteuern. Doch mit Frieders gescheitertem Selbstmordversuch wird dieser Trott jäh unterbrochen.

Um ihrem Freund und Mitschüler durch seine depressive Phase zu helfen, entscheiden sich fünf Freunde um den Ich-Erzähler Höppner zusammen mit Frieder in das Haus von Frieders verstorbenem Großvater zu ziehen. Dort angekommen läuft im Radio Madness-Kultsong ›Our House‹. Und schnell ist so der Name des Wohnsitzes im nicht gerade englischaffinen Dorf der jungen Wohngemeinschaft perfekt: Auerhaus.

»Liebe ist doch kein Kuchen«

Die Radiomusik, die Überlegungen, wie man sich vor der Wehrpflicht drücken kann, das Verunstalten eines RAF-Fahndungsplakats, das erste Auto mit Zentralverriegelung – Bov Bjerg lässt den Geist einer Jugend, die zwischen Selbstverwirklichung und traditionellem Denkschema steht, die auf der zweiten Welle der Bildungsexpansion reitet, der sich neue Möglichkeiten bieten und der doch gesellschaftliche Schranken gesetzt sind, aufleben.

Im Auerhaus herrschen Anarchie und Gleichheit. Mit all seinen Vorzügen und Problemen. Das bekommt Höppner spätestens zu spüren, als seine Freundin ihn mit ihrer Kuchentheorie überrascht: »Liebe ist doch kein Kuchen, der weniger wird, wenn man ihn teilt«. Freie Liebe versus monogame Treue. Ein Konflikt der Zeit und der Wertvorstellungen.

Semantisierter Raum

Das Auerhaus fungiert als Raum der Selbstverwirklichung. Hier können Träume Realität werden, hier hat das Leben einen Sinn. Doch außerhalb des topographischen Raums wartet die Realität mit ihren Gegensätzen. Dort finden sich die Jugendlichen nicht zurecht. Sie werden beim Klauen erwischt, fallen in alte Schemata zurück und schaffen es nicht, sich in ihre gesellschaftlichen Rollen zu fügen. Die Konsequenz ist ernüchternd. Frieder und Pauline landen im Irrenhaus, Harry prostituiert sich, Vera verletzt Höppner, Höppner fällt durchs Abi und die aus einem gut betuchten Elternhaus stammende Cäcilia ringt mit ihrer Individualität. Zurück im Auerhaus herrscht Gleichheit, Frieden und Glück. Eine Disjunktion, die größer kaum sein könnte.

Das Glück ist von begrenzter Dauer

Die Sechser-WG verdient sich schnell ihren eigenen Ruf im Ort. »Er sagte nicht ›asoziale Freaks‹, er sagte ›randständige Jugendliche‹«. Letztlich holt die Realität alle wieder ein. Das Auerhaus kann kein Ort für immer sein, es ist ein Ort der Illusion, eines Traums. Eines Traums, aus dem alle erwachen müssen. Doch das Auerhaus ist noch mehr. Im Auerhaus ist das Leben als solches die Hauptbeschäftigung. Ziellos, zwecklos, glücklich. Albert Campus schrieb einst in seinem ›Versuch über das Absurde‹: »Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd.« Treffender lässt sich der Unterschied zwischen Außenwelt und Auerhaus nicht beschreiben. Wenn Camus über Sisyphos, der Tag für Tag einen Stein einen Berg hochrollen muss, nachdenkt, dann weißt er ihm die Eigenschaft glücklich zu, weil er eine Aufgabe hat. Wenn die sechs Jugendlichen im Auerhaus ihren Träumen nachgehen, dann haben sie eine Aufgabe: Sie leben ihr Leben. In der Außenwelt gibt es keine Illusion. Und für manchen somit kein Leben. Das Resultat ist die Katastrophe.

Humorvolle Wie-Spannung

Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Bov Bjerg Kabarettist. ›Auerhaus‹ ist ein Beweis seiner Fähigkeiten. Bjerg möchte nicht albern oder übertrieben lustig sein. Seinen Humor erzielt er durch seine Nüchternheit und seine gewitzten Bezüge, ohne dabei der Leserschaft auf die Füße zu treten. »Literatur, das ist das Klopapier, mit dem sich jedes Arschloch putzt« (S. 68) heißt es beispielsweise in Zusammenhang mit der Diskussion über Goethes Werther. Die Intertextualität zu Ulrich Plenzdorfs ›Die neuen Leiden des jungen W‹ wird deutlich, der Witz funktioniert im Kontext aber auch, wenn Plenzdorfs Roman nicht bekannt ist.

Roman-Liebhaber werden beim Stöbern in ›Auerhaus‹ viele solcher Verweise und Anspielungen finden, der Roman lässt sich aber auch flüssig von der Hand lesen, ohne auf Bezüge einzugehen. Stets im Vordergrund steht dabei die Wie-Spannung statt der Was-Spannung. Die Chronologie springt und Ereignisse sind vorhersehbar. Trotzdem schafft es ›Auerhaus‹ bis zur letzten Seite, die schweren Themen jugendlicher Aussichtslosigkeit, Suizids und emotionaler Zerrissenheit in einer beschwingten Atmosphäre zu harmonisieren.

| TOBIAS KISLING

Titelangaben
Bov Bjerg: Auerhaus
Berlin: Blumenbar Verlag 2015
240 Seiten, 18,00 Euro
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine große Portion Blut mit einem Klecks Unglaubwürdigkeit an Schnee

Nächster Artikel

Prepare to die!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Zerstörerisches Doppelleben

Roman | Javier Marías: Berta Isla Welch ein Romaneinstieg! »Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war.« Damit sind Zweifel und Misstrauen gesät, die wie in einer Endlosschleife als permanente Hintergrundmusik die mehr als 600 Seiten umfassende Handlung des neuen Romans des großen spanischen Autors Javier Marías begleiten. PETER MOHR über einen Roman, der Schein und Wirklichkeiten auslotet.

Unordnung und frühes Leid

Roman | Andrea Sawatzki: Ein allzu braves Mädchen Andrea Sawatzki war in ihrer Jugend Ein allzu braves Mädchen. So hat sie der Protagonistin ihres Debütromans nicht nur die schmale Statur und auffallend rotblonde Haare verliehen, sondern auch die Erfahrung kindlicher Überforderung. Die schließlich in einen tragischen Mordfall mündet. Von INGEBORG JAISER

Imitiertes Leben

Roman | Deborah Levy: Heim schwimmen Heim schwimmen, untertauchen, versinken – Deborah Levys neuester Roman, der für den renommierten Man Booker Prize nominiert wurde, spielt mit beunruhigenden Metaphern rund um das Wasser. Eine französische Villa mit Swimmingpool gibt gleichermaßen Schauplatz, Bühne und Tatort ab. Von INGEBORG JAISER

Kommissar Daquin und die Büchse der Pandora

Roman | Dominique Manotti: Schwarzes Gold Nachdem zuletzt in der Ariadne-Reihe des Hamburger Argument Verlages vor allem ältere Bücher von Dominique Manotti erschienen sind, hat man mit Schwarzes Gold nun den jüngsten Roman der erst spät zum Schreiben gekommenen Wirtschaftshistorikerin auf Deutsch herausgebracht (Übersetzerin ist die im Verlag für Lektorat und Produktion verantwortliche Iris Konopik). Er besitzt alle Qualitäten, für die man seine Autorin seit dem Erscheinen ihrer Romane hierzulande rühmt, hat 2016 in Frankreich den Grand prix du roman noir gewonnen und präsentiert mit Théo Daquin eine Hauptfigur, die Manotti-Leser bereits kennen. Von DIETMAR JACOBSEN

Zurück aufs Surfbrett, aber schnell!

Roman | Don Winslow: Vergeltung Mit der (Wieder-) Entdeckung von Don Winslow hat sich der Suhrkamp Verlag, der, als er begann, Thriller zu publizieren, erst einmal misstrauisch von allen Seiten beargwöhnt sah, schnell Respekt verschafft. Literatur und Nervenkitzel – das bewies der heute 60-Jährige mit jedem neuen Roman – gingen durchaus zusammen. Wo blutig gemetzelt wurde, musste nicht automatisch der Stil leiden. Von DIETMAR JACOBSEN