Carpe diem

Kinderbuch | Martin Baltscheit: Nur ein Tag

Wie wunderbar, im Wonnemonat Mai auf die Welt zu kommen und das ganze Leben vor sich zu haben, findet die kleine Maifliege. Aber irgendwie ist die Sache viel komplizierter. Von ANDREA WANNER

Martin Baltscheit Nur ein TagDie Geschichte beginnt am Morgen und endet am Abend. Sie beginnt mit zwei Freunden, Wildschwein und Fuchs, die wissen, wie man das Leben genießt. Am See, den sie »unser Meer« nennen, mit Trüffelpuffern und Tee. Sie sind echte Kumpel, wobei das Wildschwein zu sentimentalen Anwandlungen neigt. So auch, als der über das Schicksal einer Eintagsfliege nachzudenken beginnt, die gleich vor ihren Augen schlüpfen wird. »Und morgen ist sie tot!«, sinniert das Schwein und will vermeiden, das Wesen, das noch nicht das Licht der Welt erblickt hat, kennenzulernen. Um sich selbst den unvermeidlichen Abschied zu ersparen. Aber dann ist es zu spät.

Die süße Kleine, die da auftaucht, ist ebenso niedlich wie neugierig. »Warum guckt ihr so traurig?«, will sie, die voller Tatendrang steckt, wissen. Klug ist sie außerdem. »Das Leben ist zu kurz zum Streiten«, geht sie dazwischen, als die beiden eine Show abzuziehen beginnen, die vom wahren Grund ihrer Traurigkeit abzulenken versucht. Es gelingt nicht wirklich. Und schließlich greifen sie zu einer Notlüge. Sie seien traurig, weil der Fuchs nur noch einen Tag zu leben habe.

Diese Geschichte entwickelt eine ungeahnte Eigendynamik, denn ausgerechnet die Eintagsfliege beschließt, dass dieser Tag der schönste im Leben des Fuchses werden muss. Dazu gehören ein Schulbesuch, ein Überfall auf eine Hühnerfarm, eine Hochzeit, eine Geburtstagsfeier … Aber wie lange können die beiden die Wahrheit für sich behalten?

Martin Baltscheit erzählt eine Geschichte über den Tod. Aber viel mehr noch erzählt er eine Geschichte über das Leben. Sterben müssen wir alle, und die Antwort auf die Frage, wie lang oder wie kurz ein Leben war, ist noch keine Antwort auf die Frage, ob es ein glückliches war. Es braucht Mut, sich darauf einzulassen, denn trotz aller Slapstickeinlagen, trotz allen Humors und aller Ausgelassenheit bleibt klar: am Ende steht der Tod. Er ist die große Herausforderung für die Freunde. Aber es gibt keine Strategien gegen den Tod, es gibt nur solche für das Leben. Es intensiv zu leben, die richtigen Dinge zu tun, trotz der Gewissheit, dass alles endlich ist, ist schwierig. Alle drei müssen das lernen. Jeder auf seine Art.

Wiebke Rauers hat sich dafür Bilder ausgedacht, die auf den ersten Blick fast zu niedlich für das Thema erscheinen. Und dann stellt man fest, dass diese drei Figuren in Comicmanier das Potenzial haben, all die widerstrebenden Gefühle auszudrücken, all die Stimmungen von Überschwang, Freude, Begeisterung, Trotz, Wut und Trauer, die diesen einen Tag im Mai prägen.

Ja, die kleine Maifliege ist eine Eintagsfliege. Und der eine Tag, den sie lebt, wird tatsächlich ihr allerschönster. Darüber lohnt es sich, nachzudenken. Und den Mai zu genießen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Martin Baltscheit: Nur ein Tag
Mit Illustrationen von Wiebke Rauers
Nach einer Idee von Anna Gabbert
Hamburg: Dressler 2016
104 Seiten, 12,99 Euro
Kinderbuch ab 6 Jahren
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