Lektüre zum TV-Duell

Gesellschaft | Walter Niederberger: Trumpland. Donald Trump und die USA: Porträt einer gespaltenen Nation

Die vorherrschende Stimmungslage? Hysterie. Einerseits sind wir lückenlos überwacht, Kameras auf jedem Bahnhof, in jeder Straße, auf jedem Markt, endlose Schnüffelei per Google, per Facebook – und die Kehrseite, logisch: Wir drohen allesamt hysterisch zu werden. Von WOLF SENFF

Niederberger - TrumplandEntsprechend die Charaktere im TV-Duell der USA: eine zwanghaft kontrollierte Kandidatin gegen einen im Halbstarken-Modus auftretenden Gegenspieler. Nun denn. Das Thema beschäftigt uns nicht erst seit letztem Sonntag mit ›Anne Will‹, und angekündigt ist die »wichtigste TV-Debatte aller Zeiten«, der erste Teil von dreien fand am Montag statt, die zwei Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im November bestätigten die Erwartungen, die nächste Runde folgt in einer Woche.

›Share economy‹

Walter Niederberger setzt seine Untersuchung nicht mit Betrachtungen latent hysterischer Stimmungslagen an, sondern er beschreibt mit dem republikanischen Kandidaten Donald Trump den desolaten Zustand einer immer noch mächtigen Nation. Trumps Auftreten sei das Resultat einer großen Sinnkrise.

Die Lage der USA ähnele mehr und mehr der eines »failed state«, und die politischen und wirtschaftlichen Eliten weigerten sich, diese Entwicklung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Nicht nur, dass weiterhin industrielle Arbeitsplätze ins Ausland verlagert würden – Kodak, Krise des ›rust belt‹, Carrier, Nestlé in Fulton, etc. –, auch in den Arbeitsverhältnissen selbst entstehe eine neue Klasse von Niedriglohnarbeitern, die von zu Hause aus arbeiten; das sei der Kern der viel gelobten ›share economy‹ ohne feste Verträge und ohne garantierte Löhne.

Im Stich gelassen

Walter Niederberger zeigt auf die Symptome sozialen Zerfalls in den USA, und wir fühlen uns an Margaret Thatchers wegweisende Worte erinnert, denen zufolge – »there is no such thing as society« – es keine Verantwortung der Gemeinschaft mehr gibt.

Das sei in den USA in diversen Bereichen längst unübersehbar: bei den rund eine Million verletzten Veteranen der Kriege in Irak und Afghanistan, die für den Rest ihres Lebens von intensiver Betreuung abhängig seien, bei den gesundheitlichen Spätfolgen der Katastrophenhelfer vom September 2001, bei den Opfern von Drogenkonsum, bei den Langzeitarbeitslosen. Allesamt von der Gesellschaft abgekoppelt, im Stich gelassen und potentielle Wähler Donald Trumps, der sich, selbst Milliardär, stramm gegen die wohlhabenden Eliten positioniere.

›Big Money‹

In dieser einbrechenden sozialen Infrastruktur nutzte eine ignorante Elite der Republikaner ihre Kongressmehrheit zu konsequenter Obstruktion, verweigerte sich Kompromissangeboten von Obama und verhinderte jegliche politische Maßnahme. Donald Trump trete nun als ein seltsamer Zwitter auf, der zwar die Frustration der Wählerschaft über die Tatenlosigkeit der Eliten bündele, aber dennoch als Kandidat der Republikaner antrete – was für ein grotesker Spagat!

Er sei keineswegs chancenlos, und Walter Niederberger weist darauf hin, wie vergleichsweise geringfügig die finanziellen Mittel seien, mit denen Trump seinen Wahlkampf gestalte. Das komme bei den Wählern an, und die intensive und geschickte Nutzung von twitter ersetze manch bürokratischen Aufwand und komplizierte Prozeduren. Nicht dass das Trump als Politiker empfehlen würde; dessen Programmatik sei alles in allem konfus.

Abschließend erfahren wir von den Milliardenbeträgen, die für die Finanzierung der Vorwahlen und des Wahlkampfs aufgebracht werden müssen, und über die Abhängigkeit fast aller Kandidaten vom ›Big Money‹. Das Vertrauen in die Führungsmacht der Freien Welt und ihren Vorbildcharakter dürfte weitgehend ausgeschöpft sein, im Ausland wie in den USA selbst. Wir lesen eine kluge Beschreibung von »Trumpland«, einer innerlich zerrissenen, ziellos lavierenden Nation.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Walter Niederberger: Trumpland. Donald Trump und die USA: Porträt einer gespaltenen Nation
Zürich: orelli füssli 2016
224 Seiten, 17,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die letzte Rockband

Nächster Artikel

Kammerspiel in der Schalterhalle

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Die Freude am Spiel wird geklaut

Gesellschaft | Dilger / Fatheuer / Russau / Thimmel: Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie Südafrika 2010 sind »die Einnahmen der Fifa gegenüber der letzten WM in Deutschland im Jahr 2006 um mindestens fünfzig Prozent gestiegen«. Da wussten sie doch, die Brasilianer, was sie erwarten würde. Oder? Aber Lula, bis 2010 Präsident Brasiliens, war offenbar närrisch, wenn es um Fußball ging. Von WOLF SENFF

Man sollte wollen, was Greta will

Gesellschaft | Greta Thunberg: No one is too small to make a difference

Politiker reden meist nur, in der Regel in nichtssagenden Floskeln. Dies erkannte die schwedische Schülerin Greta Thunberg schon in jungen Jahren und sie erkannte angesichts der drohenden Klimakatastrophe, dass sie handeln muss. Sie begann mit Schulstreiks vor dem schwedischen Parlament und hat damit offensichtlich einen Nerv getroffen. Von BASTIAN BUCHTALECK

Die Forschung hebt ab

Kulturbuch | Volker Roelcke: Vom Menschen in der Medizin Nein, Schmerzen, das wäre nicht so sehr meins. Wenn ich versuche, einen Nagel in den Tisch zu schlagen, wird mich das nicht zum Fachmann in Sachen Schmerz befördern. Doch das Thema ist aufschlussreich, es wirft die Gewichtungen der medizinischen Forschung über den Haufen, und das ist offensichtlich gut so. Von WOLF SENFF

Wir verblöden weiter

Sachbuch | Wolf Wagner: Tatort Universität

Eine engagierte Analyse des Wissenschaftsbetriebs und zehn »Regeln« für eine kreativere Zukunft an deutschen Hochschulen. Von JOSEF BORDAT

Bildgewaltiges Glanzstück

Gesellschaft | Katherine Boo: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben In Annawadi, einem Slum in Mumbai, leben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die Angst vor dem endgültigen existenziellen Ruin dicht beinander. Neid, Korruption und ethnische Konflikte bestimmen den Alltag. In Ihrer bewegenden Reportage Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben schildert Katherine Boo eingängig die Lebensumstände in einem indischen Elendsviertel. Von MARC STROTMANN