Ohne Anfang, ohne Ende

Roman | Andreas Maier: Der Kreis

»Ich erzähle keine Geschichte. Ich erzähle eher so etwas wie eine persönliche Ideengeschichte, die Ideengeschichte eines Menschenlebens«, erklärte Andreas Maier kürzlich in einem Interview nach Erscheinen seines neuen Romans Der Kreis. Es ist der fünfte von insgesamt elf geplanten Bänden eines stark autobiografischen Mammut-Epos‘. Nun erzählt der 49-jährige Andreas Maier wie der »Problem-Andreas« aus der Wetterau (ein Landstrich in Mittelhessen) in Kinder- und Jugendtagen seine ersten Begegnungen mit der Literatur erlebt hat. Von PETER MOHR

kreisDer Kreis bricht mit der Chronologie im bisherigen Erzählprojekt, bewegt sich mal zurück, springt dann wieder nach vorn; es liest sich wie eine erste Wetterauer Zwischenbilanz mit den Kapitel-Überschriften Grundschule, Unterstufe, Mittelstufe, Oberstufe. »Meine Eltern hatten gar nicht gewusst, dass ich verrückt war«, hieß es im vorangegangen Band Der Ort (2015).

Maier ist ein Sezierer seiner eigenen Erinnerungen, die er aufhübscht und dramatisiert – gerade so, wie es dem Dichter im stilisierten Rückblick aus der Feder fließt. Der Autor macht sich retrospektiv selbst zur Kunstfigur und betreibt eine selbstverliebt anmutende, rückwärtsgewandte Ich-Erkundung. Ein artifizielles Spiel mit biografischen Möglichkeiten, stets alternierend zwischen Fakten und dichterischer Imagination.

Wir begegnen dem kindlichen Andreas, wie er das geheimnisvoll gezeichnete Bibliothekszimmer seiner Mutter erkundet, einen beinahe heiligen Ort, an dem er in Kant-Taschenbüchern blättert und sich wahllos Lexika aus dem Regal greift. »Als Altar diente hier, allein und unbenutzt, der Schreibtisch.«

Die Mutter pflegt Kontakt zum Friedberger Schriftsteller Fritz Usinger (immerhin Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 1946), spielt Klavier und liest Hans Küng und Hoimar von Ditfurth – nicht gerade typisch für eine Hausfrau und Mutter der 1970er Jahre in der mittelhessischen Provinz.

Welch ein Reiz steckt in dieser ungewöhnlichen Konstellation? Doch Andreas Maier hat diese Chance leichtfertig vertan, die Figur seiner Mutter bleibt seltsam blass. Die Welt der Bücher, der Bildung, des Geistes, die hier von der Mutter verkörpert wird, hüllt Maier in einen beinahe mystischen Nebel. Häusliche Bildung und das Leben in der Provinz zwischen Gießen und Frankfurt scheinen sich auszuschließen. Auch die kühle Distanz, die er erzählerisch zu seiner Mutter-Figur aufbaut, zeugt von einer seltsam anmutenden, künstlerisch konstruierten Unvereinbarkeit. Die Mutter wird zumindest emotional von der Entwicklung des »Problem-Andreas« nahezu abgetrennt.

Eine Art Initialzündung für den weiteren Lebensweg löst der Besuch einer Schultheater-Aufführung mit den heute bekannten Theatergrößen Thomas Heinze und René Pollesch aus. »Ihr Wille war absolut auf das Erreichen von Künstlertum ausgerichtet«, befindet der Teenager bewundernd. Die Begeisterung für die Kunst als Selbstzweck schwingt als Hintergrundmelodie auf jeder Seite dieses schmalen Büchleins mit.

Andreas Maier hat mit seinem fünften Band die Wetterau und seine Familie weitestgehend hinter sich gelassen und sich erzählerisch allzu stark auf sein Erzähl-Ego und dessen juvenile künstlerische Ambitionen fokussiert. »Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende, kein Vorne und kein Hinten.« Mit diesem Satz leitet Maier nicht nur seinen Roman ein, sondern entlässt den Leser (leicht abgewandelt) auch damit wieder aus der Handlung. Absolut unfreiwillig bringt dieser Satz allerdings auch das Lektüre-Erlebnis auf den Punkt. Ohne Anfang, ohne Ende, aber dafür reichlich selbstverliebt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Andreas Maier: Der Kreis
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
147 Seiten. 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Andeas Maier bei TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

American Pie-Rugby – Mix

Nächster Artikel

Horizon(t) in Down Under

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ein ehrenwertes Haus

Roman | Elisabeth Herrmann: Der Schneegänger Nach ›Das Dorf der Mörder‹ (2013) lässt Elisabeth Herrmann in ihrem neuen Roman ›Der Schneegänger‹ zum zweiten Mal den etwas unzugänglichen Berliner Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring und die junge Polizistin Sanela Beara gemeinsam ermitteln. Beara absolviert inzwischen ein Studium des »Gehobenen Polizeivollzugsdienstes«. Gehring beißt sich die Zähne an einem wieder aktuell gewordenen Fall aus, den er vier Jahre zuvor im ersten Anlauf schon nicht bewältigt hat. Weil es dabei um das verschwundene Kind deutschstämmiger Kroaten ging, das man nun tot gefunden hat, glaubt der Hauptkommissar, in Beara, deren Familie aus Vukovar stammt, die ideale Ko-Ermittlerin

Schreiben, um nicht umzukommen

Roman | Antje Ravik Strubel: Blaue Frau

»Man hat ohnehin schon das Problem der Scham und des Schuldgefühls, wenn einem so etwas widerfährt. Überhaupt diese Schwelle zu überwinden, davon zu erzählen. Und dann wird man noch damit konfrontiert, dass einem der Vorwurf der Lüge gemacht wird. Das ist eine sehr heikle Situation. Das fand ich wichtig, darüber zu schreiben«, erklärte die in Potsdam lebende Autorin Antje Ravik Strubel über die gedankliche Vorgeschichte ihres neuen Romans, in dem sexualisierte Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2021 schreibt PETER MOHR

Allein gegen die Mafia

Roman | Leonhard F. Seidl: Genagelt Krimiliteratur vom Feinsten: die Endstation für brave Katholiken: Der Erste wird gekreuzigt am Feldrand aufgefunden. Der Zweite baumelt in Halbschuhen erdrosselt vor einer Sitzbank. Die Dritte wird Opfer einer Brandkatastrophe. Der Autor Leonhard F. Seidl kommt in Genagelt einem Serienmörder auf die Schliche. Der Rezensent HUBERT HOLZMANN steht in sicherer, agnostischer Entfernung.

An der französischen Atlantikküste

Porträt | Interview mit Jean-Philippe Blondel über seinen Roman ›Direkter Zugang zum Strand‹ Mit ›6 Uhr 41‹ gelang dem französischen Schriftsteller Jean-Philippe Blondel hierzulande ein Bestsellererfolg. Sein zweiter ins Deutsche übersetzte Roman ›Direkter Zugang zum Strand‹ ist wie ein Puzzle, das sich vor dem Hintergrund des Meers entfaltet. BETTINA GUTIÉRREZ hat ihn hierzu befragt.

Eine Liebeserklärung an die Ewige Stadt

Roman | Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita Klaus Wagenbach hat zum 50-jährigen Verlagsjubiläum letztes Jahr Pier Paolo Pasolinis Ragazzi di Vita in einer Neuauflage herausgebracht. – TITEL kulturmagazin gratuliert dem »Verlag mit der Tür nach Italien«. Von HUBERT HOLZMANN