Jugendbuch | Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte
Die Notaufnahme ist der Ort, an dem man nach einem Unfall landet, mit blutenden Wunden, gebrochenen Knochen, Organen, die nicht mehr arbeiten, wie sie sollen. Wo aber soll man sich hinwenden, wenn das Leben in Scherben fällt, weil die Eltern sich haben scheiden lassen? Die Notaufnahme kann auch in so einem Fall kleine Wunder wirken, behauptet Anna Woltz mit ihrem neuesten Streich, der kleinen Geschichte von Fitz. Von MAGALI HEISSLER
Die Welt ist ein unsicherer Ort geworden, Felicia steht unter Schock. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen. Wie soll es nun weitergehen? Ein paar Tage bei Papa, ein paar bei Mama, immer die Hin-und-Her-Tasche über der Schulter. Dabei ist doch klar, dass Mama sich nur noch für sich interessiert, sie hat laut gesagt, dass sie endlich wieder Zeit für sich will. Papa kann prima Möbel schreinern, aber sich um Kinder kümmern kann er nicht. Der Beweis folgt auf dem Fuße. Das Fahrrad mit Papa und der kleinen Schwester Bente kippt. Dummerweise hat Bente einen funkelnagelneuen Schlitten im Arm. Ein Finger gerät unter die Kufen. Tränen, Blut, Notaufnahme. Wie soll man das alles überstehen? Felicia ist sicher, dass sie das nicht kann.
Aber vielleicht schafft es »Fitz«, das ist der neue Name, den sie sich gegeben hat. Fitz trifft nämlich Adam. Und Primula, die aussieht wie ein kriminelles Küken. Die schöne Pflegerin Yasmine, einen gut aussehenden Arzt und einen lustigen Pfleger. Auf einmal fühlt sie sich mitten in einer Krankenhausserie. So viele Probleme! Aber eigentlich dreht sich alles nur um eins: was ist Liebe? Eine große Frage, nicht nur für jemand, die eben zwölf Jahre und drei Wochen alt ist.
Was ist eigentlich Liebe?
Woltz hat bereits in zwei Büchern für ein Publikum am Ende der Kinderzeit/am Anfang des Jugendalters bewiesen, dass sie eine geschickte Hand beim Gestalten sehr junger Hauptfiguren hat. Felicia ist ein kleiner Geniestreich, geballte Wut auf zwei noch kurzen Beinen. Ebenso groß ist ihre innere Angst. Sie fühlt sich verlassen, alles, wovon sie bisher überzeugt war, hat sich als falsch erwiesen. Um ihre Meinung macht sie keinen Hehl. Wenn sie leidet, sollen die anderen das auch. Die Kleine ist vor lauter Entsetzen skrupellos. Woltz beginnt mit einem kleinen Rätsel, dessen Lösung einige Kapitel später nicht nur die Figuren im Buch, sondern auch die Leserin ins Herz trifft.
Wobei wir beim Thema sind, der Liebe. Immer wieder taucht die Frage auf, was es bedeutet, zu lieben. Fitz begegnet verschiedenen Formen und Abstufungen. Woltz hat sich eine Menge einfallen lassen. Freundschaft, Zuneigung, Verliebtheit, Hingabe, Romantik, Sentimentalität, Vertrauen sind nur einige der Beispiele. Die ganze Geschichte ist eine Entdeckungsfahrt in das Land dieses Gefühls, mit all seinen Sicherheiten und Unsicherheiten bis hin zu tödlichen Gefahren, die es birgt. Ein Land, das man zu kennen glaubt, bis man es betritt und merkt, dass man keine Ahnung hat.
Der Autorin geht es um eine ehrliche Auseinandersetzung. Die Endlichkeit von Liebe wird nicht ausgeblendet. Die Gefühle sind stark, die Figuren überlebensgroß. Das macht sie mit solchem Geschick, dass sie nie die Grenze zum Absurden überschreitet. Die Ehrlichkeit, die Wärme und Woltz’ besonderer Humor verankern diesen verrückten Tag in einem Krankenhaus in der Realität.
Schneekugel, umgekehrt
Gestaltet ist das Ganze als Wintermärchen, die Handlung spielt an einem einzigen Tag. Im Lauf des Tages beginnt es zu schneien, bald so stark, dass die Welt draußen von innen nicht mehr zu sehen ist. »Eine Schneekugel, nur anders herum«, denkt Fitz und benennt damit die verkehrte Welt, durch die sie immer noch irrt. Im Krankenhaus häufen sich ihre persönlichen Katastrophen. Ihr heimlicher Wunsch, Ärztin zu werden, werden durch den Anblick der Wunde an der Hand der kleinen Schwester, die Krankenhausroutine und die medizinische Versorgung auf eine harte Probe gestellt. Auch Adam und Primula erzählen von Schwierigkeiten, die Felicia nur als Fitz ertragen kann. Das verhindert nicht, dass sie sich auch mit ihrem eigenen Herzen auseinandersetzen muss und natürlich wird das der härteste Kampf.
Nicht nur Felicia/Fitz ist gelungen, auch die anderen Figuren sind es. Woltz achtet genau auf ihre Altersgruppen. Bente und Primula sind bei aller Reife im Sprechen und Handeln erkennbar jünger als Fitz und diese ist im Vergleich zum fünfzehnjährigen Adam wiederum kindlicher. Was den keimenden Freundschaften keinen Abbruch tut. Die Übersetzung von Andrea Kluitmann vermittelt den dazugehörigen Tonfall, abgestimmt bis ins Kleinste.
Unwiderstehlich komisch und ebenso unwiderstehlich schön sind die Auswirkungen des Einfalls, in das Ganze die Romantik-Versatzstücke von Krankenhausserien zu mischen. Im Innern der verschneiten Welt geht es heiß her. Es wird viel geweint, seelische und körperliche Schmerzen werden nicht ausgeblendet. Woltz beschreibt sehr intensiv, es gibt hochemotionale Szenen. Nicht nur die Figuren im Buch, auch die Leserinnen haben einiges zu schlucken.
Am Abend kehren die Heldinnen nach Hause zurück, siegreich, versteht sich. Aber sie haben einiges von sich zurückgelassen, freiwillig und nicht ganz so freiwillig. Vor allem Fitz musste einige harte Lehren einstecken. Sie hat es geschafft, weil sie eben doch Felicia ist. Weil sie die beste kleine Schwester der Welt hat. Und weil die Unsicherheiten der Liebe nicht aufwiegen, was sie an Schönheiten bietet.
Titelangaben
Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte
(Gips,2015) Übersetzt von Andrea Kluitmann
Hamburg: Carlsen 2016
175 Seiten. 10,99 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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