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Der fuchsige Igel, der sich gerne versteckt

Menschen | Porträt | Siegfried-Lenz-Preisträger Julian Barnes

Er ist der Igel im Fuchsgewand: Julian Barnes kann eines richtig gut – schreiben. Und das in den unterschiedlichsten Facetten, wie sein eindrucksvolles literarisches Werk beweist. Als Autor versteckt sich der sympathische Brite gerne hinter schwarzem Humor und verschiedenen Identitäten, tritt jedoch stets bescheiden auf und möchte nicht über seinem Leser thronen. Ein Porträt des diesjährigen Siegfried-Lenz-Preisträgers Julian Barnes von MONA KAMPE

»Ich mag die Idee des Versteckens. Ich habe ja auch unter dem Namen ›Elena Ferrante‹ geschrieben. Aber das kann ich nun wahrscheinlich nicht mehr«, scherzt ein langer, schmächtiger, unscheinbarer Mann um die 70 auf einer Lesung am 10. November 2016 im Thalia Theater Hamburg und nimmt damit mit einem leichten Hauch schwarzen Humor Stellung zu der Frage nach seinen vielen Pseudonymen, unter denen er in seiner frühen Schaffensphase vor allem Kriminalromane verfasst hat. Das Publikum findet diesen bewussten, kleinen Ulk mit den in den letzten Wochen sehr brisanten Schlagzeilen um die Enttarnung der anonymen Identität der italienischen Bestseller-Autorin Elena Ferrante äußerst amüsant.

Gestatten, Julian Barnes – Brite, zeitgenössischer Schriftteller und 70 Jahre jung!

Julian Barnes - Nothing To Be Frightened OfDer sympathische, höfliche Herr mit der galanten Prise Selbstironie sagt Ihnen nichts?
Ich könnte damit anfangen, Ihnen zu erzählen, dass Julian Barnes 1946 in Leicester in England geboren wurde, in London zur Schule ging und 1968 sein Studium der ›Modernen Sprachen‹ mit Auszeichnung in Oxford abschloss. Anschließend arbeitete er als Literatur- und Fernsehkritiker bei den Magazinen ›New Statesman‹, ›New Review‹ und ›Observer‹.

Doch das würde Sie schnell langweilen, denn von eigentlicher Relevanz und Brisanz ist im Sinne seiner jüngst erworbenen Ehrung, dem Siegfried-Lenz-Preis 2016, doch schließlich die Frage, wie dieser Mann zu seinem Schriftstellerleben kam – und zu seinen vielen, spannenden Facetten.

Vom jungen, enthusiastischen Biografen zum politisch-engagierten Literaten

Beim Blick in Julian Barnes` Werk nimmt er uns Leser mit auf eine bunte, eindrucksvolle Reise: Wir beginnen als Heranwachsende in den Vororten Londons – dem ›Metroland‹ (1981) – und feiern mit ihm seinen internationalen literarischen Durchbruch mit ›Flauberts Papagei‹ (OT: ›Flaubert‘s Parrot‹, 1984), in dem sein Protagonist, ein Liebhaber des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert, sich auf dessen biografische Entdeckungstour begibt; und beim Versuch, das Rätsel um den grünen Papagei auf dem Schreibtisch des Verfassers von ›Madame Bovary‹ zu lösen, ungeahnte Parallelen zu seinem eigenen Leben entdeckt. In höchst metaphorischer Sprache und Detailverliebtheit zeigt sich der junge, enthusiastische Autor, der Frankreich über seine Eltern, beide Französischlehrer, als das erste fremde Land erkundete und damit eine neue Sicht auf seine Heimat gewann.

Barnes - Eine Geschichte der Welt in 10einhalb KapitelnIn ›Die Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln‹ (OT: A History of the World in 10½ Chapters‹, 1991) gelingt es Julian Barnes mit einem bewussten Mix aus Fiktion und Historie, unsere Ansicht der Welt, von Geschichte und Fakten komplett auf den Kopf zu stellen und die ››ironische, brillante Verdichtung einer tendenziell endlosen Sache‹‹ , so das Magazin ›ZEIT‹ im Mai 2016. Wir ziehen bis heute den Hut vor seinem grandiosen ›Ende einer Geschichte‹ (OT:›The Sense of an Ending‹), welches 2011 mit dem ›Man Booker Prize‹ ausgezeichnet wird und die für Julian Barnes charakteristischen stilistischen Elemente ›Geschicklichkeit‹ und ›Blick nach innen‹ im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Erinnerungen fasst. So auch die Essay-Sammlung ›Am Fenster‹ (OT: ›Through the Window‹, 2011), bei der wir das Leben mit Schriftstelleraugen sehen und begreifen, dass »novels tell us the most truth about life: what it is, how we live it, what it might be for, how we enjoy and value it, and how we lose it. / Romane uns die ehrlichste Wahrheit über das Leben erzählen – was es ist, wie wir es leben, wofür es da sein könnte, wie wir es genießen und bewerten, und wie wir es verlieren«.

Barnes - Levels of LifeWir sind tief bewegt und durchleben mit ihm den unfassbaren Tod eines geliebten Menschen, wenn wir ›Lebensstufen‹ (OT: ›Levels of Life‹, 2013) aufschlagen, in dem er sich mit dem Verlust seiner Ehefrau Pat Kavanagh auseinandersetzt. Sein vielleicht persönlichstes Buch und von Lesern als eine »unglaublich schöne Liebesgeschichte« beschrieben. Seitdem lebt Barnes sehr zurückgezogen und tritt nur noch selten öffentlich auf.

In seinem neuesten Roman ›The Noise of Time‹ (2016) veranschaulicht er uns am biografischen Exempel des russischen Komponisten Dmitri Shostakovich ein Leben in Angst, Versteckspielen und Ungewissheit vor einer Beseitigung durch die Regierung Stalins und seiner sowjetisch-staatlichen Apparate und dessen Auswirkung auf spätere Lebensphasen.
»He has given us a novel that is powerfully affecting, a condensed masterpiece that traces the lifelong battle of one man’s conscience, one man’s art, with the insupportable exigencies of totalitarianism / Er hat uns ein Werk geschenkt, das starke Effekte erzielt, ein kondensiertes Meisterstück, das den lebenslangen Kampf des menschlichen Gewissens, der menschlichen Kunst, mit den zerstörerischen Auswirkungen des Totalitarismus einfängt«, rezensiert ›The Guardian‹ im Januar 2016. Der Sprung zum politisch-engagierten Literaten ist vollzogen – Schritt für Schritt über die Jahre hinweg ein wenig offensichtlicher.

»Der Autor versteht es, in seinen Romanen Elemente der Moderne und Postmoderne auf raffinierte Weise miteinander zu verknüpfen«,

so das Urteil der Jury der ›Siegfried Lenz Stiftung‹, welche Julian Barnes am 11. November 2016 im Hamburger Rathaus feierlich den mit 50.000 Euro dotierten ›Siegfried-Lenz-Preis 2016‹ verleiht. Dieser wurde von dem gleichnamigen, 2014 verstorbenen, Schriftsteller ins Leben gerufen und wird alle zwei Jahre an internationale Autoren vergeben, »die mit ihrem erzählerischen Werk Anerkennung erlangt haben und deren schöpferisches Wirken dem Geist von Siegfried Lenz nah ist«. »So eindrücklich seine Bücher von satirischen und ironischen Tonlagen geprägt sind, so unmittelbar stellt er sich in die Tradition eines Erzählens, das essentielle Lebensfragen der Menschen verhandelt«, fasst das Komitee das Lebenswerk des englischen Erzählers zusammen.

Er selbst gibt auf seiner Lesung bescheiden preis, dass er niemals über seinem Leser thronen möchte. »Als junger Mann war ich unfassbar schüchtern. Mit Anfang 30 arbeitete ich in der Redaktion des ›New Statesman‹, und bei Redaktionskonferenzen brachte ich nicht ein einziges Wort heraus. Ich war starr vor Angst, jemand könnte mich etwas fragen und zum Sprechen zwingen. Also habe ich mir die Theorie zurechtgelegt, dass das Schreiben meine Rettung war: meine Art, mit vielen Leuten ins Gespräch zu kommen. Aber vielleicht ist diese Theorie nur ein Schutzwall, hinter dem die wahren Schreibmotive sich verbergen – auch vor mir selbst. Ich will es eigentlich gar nicht genau wissen«, verrät er der ›ZEIT‹ in einem Interview vom Oktober 2016 zu seinen Beweggründen, sich dem Schreiben zu widmen.

Auf die Frage, ob er seinen Preisstifter kenne, bekennt der sympathische Brite gegenüber dem ›Hamburger Abendblatt‹: »Ich kannte vorher nur den Namen. Mittlerweile habe ich seine Erzählungen und die Novelle ›Schweigeminute‹ gelesen und finde sie wundervoll. Und ich freue mich schon auf die ›Deutschstunde‹«.

Abschließend habe ich noch eine Frage an Sie: Können Sie sich nun ein Bild von Julian Barnes machen? Falls nicht, hilft eine kleine Fabel, die die Anglistik-Professorin Julika Griem in ihrer Abschiedsmoderation der Lesung im Thalia Theater anbringt: »Es gibt Menschen, die sind wie Füchse – sie können viele Sachen. Dann gibt es solche, die sind wie Igel – sie können eine Sache richtig gut. Julian Barnes ist ein igeliger Fuchs oder ein fuchsiger Igel: Er kann eines brillant, nämlich schreiben, und das auf vielfältige Art und Weise«.

| MONA KAMPE

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Julian Barnes: Nothing To Be Frightened Of
London: Vintage 2009
256 Seiten, 11,10 Euro

Reinschauen
| Julian Barnes offizielle Seite
| Siegfried Lenz Stiftung

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