TITEL-Textfeld | Verena Stegemann: Der alte Mann, der sein Leben bei sich trug
Jeder kannte ihn, er war der alte Mann mit der schwarzen Tasche. Er trug sie immer bei sich und sie spekulierten, ob er sein gesamtes Geld darin trüge, seine Kriegstagebücher oder nur ein paar vergilbte Fotos. Manch einer vermutete einfach die gewisse lebensrettende Flasche Schnaps.
Aber niemand wagte es, zu fragen, zu intim schien diese Frage und man fühlte eine tiefe bürgerliche Scham vor dieser zu offensichtlich zur Schau gestellten Neugier. Der Mann saß auf einer Bank in der Sonne, blickte über das offene Meer und hielt seine Tasche im Arm, wie andere ihre Frau im Arm halten, oder vielleicht auch ihren Hund. Er war nicht verrückt, nein, darüber war man sich einig, denn er redete nicht mit sich selbst und zwinkerte nicht mit einem Auge, oder machte sonstige verrückte Anstalten. Wenn einer verrückt ist, dann redet er mit sich selbst und schneidet Grimassen und zuckt mit dem Auge. Aber der Mann mit der Tasche war ein normaler Mann, nur seine Tasche, die er immer mit sich trug, war ein Gesprächsthema nach der Messe am Sonntag, und halbseidenes Getuschel wert wenn man ihn traf, und er dabei nur stumm lächelte und nickte. Fast war sie ein Ärgernis.
Einmal hatten die jungen Kerle versucht, ihn auf einem Fest, bei dem er abseits auf einer Bank saß, betrunken zu machen. Betrunken und schläfrig. Im Koma des Alkohols hatten sie versuchen wollen, seine Tasche, von ihm unbemerkt, zu öffnen und das Geheimnis ihres Inhalts ein für allemal zu lüften. Aber er hatte ein Nachschenken dankend abgelehnt. Man konnte nichts tun.
Eigentlich war es ja keine große Sache: Jemand trug eine Tasche, und trug sie überallhin mit, und öffnete sie nicht vor anderen. Eigentlich war das erlaubt. Nicht strafbar. Es gab keine Anzeichen für eine Straftat.
Aber niemand sonst trug so eine schwarze Tasche mit sich herum und öffnete sie nicht. Und wenn niemand sonst es tat, dann musste es falsch sein, unmoralisch, im schlimmsten Fall sogar kriminell. Und so rang sich doch endlich jemand dazu durch, die Polizei zu rufen und den Namen des alten Mannes zu nennen, seinen eigenen aber nicht. Und die Adresse des altes Mannes zu melden und zu bekunden, dass die Frauen große Angst um ihre Kinder, die auf der Straße spielten, hätten, Kinder, die der Mann anstarre und dabei drohend die Augen zusammenkneife. Man lebe in Angst, dass er eines Tages um sich schießen könne, einmal, irgendwann.
Die Polizeistreife hielt vor seinem Haus, er kam gerade wieder, sie trugen kugelsichere Westen und warnten ihn schon von Weitem, die Hände an den Hinterkopf zu nehmen. Er tat, wie ihm befohlen, und nahm seine linke Hand von der Tasche und faltete sie hinter seinen Kopf. Er ging langsam, wie ihm bedeutet, und doch rutschte der Gurt der Tasche bei jedem Schritt und drohte, von seiner Schulter zu gleiten. Er blieb stehen und wollte den Gurt richten, und nahm seine Hände vom Kopf.
Die Kugel streifte seinen Oberarm und seine Hände sanken zu Boden, die Tasche fiel, er nickte stumm und hielt sich die klaffende, blutende Wunde und sah sie an, mit großen Augen, mit weitem Blick, und sank dann zu Boden.
Sie legten ihm Handschellen an, dann riefen sie einen Arzt, dann empfahlen sie ihm einen Anwalt, aber er lehnte ab, und dann sagten sie, sie müssten seine Tasche konfiszieren, es gäbe begründete Annahme zu einer Gefährdung der Öffentlichkeit, eventuell zu einer geplanten Straftat. Er sah sie an, mit großen, weiten Augen und nickte stumm und hielt sich die Wunde am Arm. Sie baten ihn, zu warten und dann verließen sie den Raum, zogen Handschuhe an und legten die schwarze Tasche auf einen Metalltisch und zogen das Oberlicht tief zu sich hinunter. Dann öffnete einer den Verschluss und man klappte das schwarze Leder auf. Mit spitzen Fingern öffnete man Innenfach für Innenfach, zog die Reißverschlüsse auf, durchkämmte die Stofftaschen mit der Handfläche. Nichts.
Man schnitt die Nähte auf und untersuchte auf Zwischennähte und doppelten Boden. Aber die Tasche war leer. Nichts. Sie sahen sich an, und überspielten die Beschämung, und der Funke Anstand in jedem wich sofort der erleichterten Rechtfertigung über die Wichtigkeit, jedem Hinweis nachgehen zu müssen. Es hätte auch anders ausgehen können. Man hätte auch ein Blutbad verhindern können. Fast hätte man ein Blutbad verhindert!
Sie sprachen den alten Mann frei und sagten, man bedauere, aber das Gesetz schütze die Bürger und man hätte, dem ernsthaften, anonymen Hinweis folgend, jegliche Gefährdung ausschließen müssen. Sie gaben ihm die zerschnittenen Reste seiner Tasche in einer Plastiktüte zurück. Einen Kompressionsverband. Der alte Mann weinte, und drückte die Tüte und Päckchen an sich und nickte und verließ das Kommissariat und ging los und setzte sich irgendwo am Wasser auf jene Bank, die alle Meere und jeden Abgrund überblickt.
| VERENA STEGEMANN
| Abb: MICHAL SPISAK
Lesetipp
Verena Stegemann: Leandra-Lou Runway. Catwalk. Holzweg.
Mit Illustrationen von Orlando Hoetzel
Mannheim: Kunstanstifter Verlag 2013
100 Seiten, 22,50 Euro
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