/

Die Welt ist nicht genug, Salomo

Bühne | Dürrenmatts ›Physiker‹ am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg

»Die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in die Komödie!« Dürrenmatts Drama ›Die Physiker‹ ist ein exzellentes Beispiel für die Komik der grotesken Situation, in der sich die Wissenschaft in der technisierten Welt befindet. MONA KAMPE

Das Deutsche SchauSpielHaus Hamburg zeigt eine klassisch-moderne Slapstick-Version, die unseren Lachmuskeln ein ordentliches Training verpasst. Von

»Salomo, der arme König der Wahrheit. Nackt und stinkend kauert er in einem Zimmer«, philosophiert Möbius vor sich hin. Seine Ex-Frau Lina und seine Söhne vermag er – heimgesucht von Offenbarungen des weisen Psalm-Dichters ›Salomo‹ – nicht wiederzuerkennen und schlägt sie mit seinen wahnsinnigen Worten in die Flucht.

Möbius, gespielt von Markus John; Credits: Sandra Then
Möbius, gespielt von Markus John
Abb: Sandra Then

So einfach lässt sich seine Geliebte, Schwester Monika, die ihn seit zwei Jahren im Sanatorium ›Les Cerisiers‹ pflegt, nicht abwimmeln. Sie glaubt an ihn und seine Erfindungen und schmiedet Pläne für ihre Flucht sowie ein gemeinsames Leben. Die Abreise ist bereits in die Wege geleitet, das Glück besiegelt – doch am nächsten Morgen wird sie tot aufgefunden, erdrosselt mit einer Vorhangkordel.

Einfach Irrsinn?

Inspektor Voß ist ratlos: Dies ist bereits der dritte »Unglücksfall« in der Heilanstalt innerhalb weniger Monate. Alle Opfer waren Krankenschwestern – alle Täter ihre Lieblingspatienten, die drei ›Physiker‹ Möbius, Einstein und Newton. Diese geben die »Morde« offen zu, können aber aufgrund ihrer geistigen Verfassung nicht verhaftet werden.

Die Institutsleiterin Fräulein Dr. von Zahnd zeigt sich überrascht, die anderen beiden Insassen seien während ihrer Forschung mit Radioaktivität in Berührung gekommen und ihre Gehirne Opfer einer Deformation, aber Möbius hatte sie als ›harmlos‹ eingestuft. Dieser redet sich mit einer Vision raus, die ihm Salomo schickte. Sie glaubt ihm. Der Inspektor stellt aufgrund der ausweglosen Situation die Ermittlungen ein.

Was er nicht durchschaut: Möbius hütet ein Geheimnis – er mimt nur den Irrsinnigen.

Der Wahnsinn hat Methode

Er – tatsächlich Physiker – hat das »System aller möglichen Erfindungen« als Weltformel entwickelt, die in den falschen Händen die Menschheit vernichten könnte. Mit dieser Gewissheit ließ er sich in das Sanatorium einweisen und versucht mit seinem gespielten Wahnsinn die Welt vor den fatalen Folgen zu bewahren. Die Verantwortung gegenüber der Wissenschaft kostete ihn einen hohen Preis – seine Familie und Freiheit.

Was er nicht ahnte, ihm aber nun offenbart wird: Seine beiden Mitinsassen, die sich für Newton und Einstein ausgeben, sind zwar auch Physiker, aber zugleich Agenten zweier großer Geheimdienste in der Sowjetunion und den USA, die ihn bespitzeln, um an die »Weltformel« zu gelangen. Beide versuchen ihn davon zu überzeugen, dass er es der Menschheit und der Politik schuldig sei, seine Entdeckungen zu teilen – und nebenbei winke auch noch ein Nobelpreis.

Markus John, Karoline Bär in »Die Physiker« © Sandra Then
Markus John, Karoline Bär
Abb: Sandra Then
Während die beiden Rivalen sich einem urkomischen Waffenduell widmen, entwischt Möbius und verbrennt seine Aufzeichnungen. Er macht ihnen schließlich die moralische Verantwortung der Wissenschaft und die Notwendigkeit, in der Heilanstalt zu verweilen, deutlich: »Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff«. Zudem weist er auf die begangenen Morde hin, aufgrund derer ein Leben in Freiheit unmöglich geworden ist. Das Aufrechterhalten ihrer irren Tarnung dient zweierlei: der Sühne ihrer Schuld und dem Heldentum, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Die Welt scheint endlich gerettet, aber …

… »Was einmal gedacht wurde, …

… kann nicht mehr zurückgenommen werden!« Diese unfassbare, schmerzliche Einsicht kommt zu spät – die moderne Technik hat die drei Physiker überlistet, die »Weltformel« ist in die falschen Hände geraten und macht Möbius Befürchtungen wahr. Die Wissenschaft muss kapitulieren. Die Geschichte hat ihre schlimmstmögliche Wendung genommen.

Friedrich Dürrenmatts ›Komödie in zwei Akten‹ von 1962 gewinnt in der Bühnenfassung von Sebastian Kreyer, welche am 25. April 2015 am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg Premiere feierte, völlig neue Dimensionen. In einem der Entstehungszeit äquivalenten Szenario – klassische Kostümierung und Dialoge – schafft er mit modernen, schlichten, auflockernden Elementen – Drehbühne, Slapstick, Musicalelemente – eine Transformation der Intentionen und Gesellschaftskritik Dürrenmatts auf die heutige Weltgefahrenlage.

Noch immer sind wir wie zu der Zeit des ›Kalten Krieges‹ von einem möglichen Atomangriff bedroht. Die stets fortschreitende Technik bzw. Digitalisierung stellt den Menschen vor immer neue Herausforderungen, die er zwar handhaben, aber nicht begreifen kann. Ihm drohen Kontrollverlust, irrsinniges Machtstreben und die Zerstörung des eigenen Lebensraumes – und das in Eigenverantwortung. Denn Wissen kann immer in die falschen Hände geraten.

Slapstick-Krimi-Waffenduell von Newton (Paul Herwig) und Einstein (Yorck Dippe); Credits: Sandra Then
Slapstick-Krimi-Waffenduell von Newton (Paul Herwig) und Einstein (Yorck Dippe);
Abb: Sandra Then

Die Neuinszenierung spiegelt in großartiger Besetzung sowie musikalischer Untermalung diese groteske Situation wieder – unter anderem in den äußerst amüsanten, krimiartigen Waffenduellen zwischen Newton und Einstein, die die Lachmuskeln der Zuschauer in Hochform bringen, und ausdrucksstarken Musicaleinlagen, etwa der gemeinsamen, aus dem Stegreif gezauberten Songwidmung der drei Physiker an ihre geliebten, getöteten Krankenschwestern.

Die Frage nach der Ethik stellt sich folglich nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch an uns selbst. Die Welt ist nicht genug, Salomo.

| MONA KAMPE
| Fotos: SANDRA THEN

Titelangaben
Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt
Deutsches SchauSpielHaus Hamburg
Darsteller: Karoline Bär, Yorck Dippe, Ute Hannig, Sachiko Hara, Paul Herwig, Markus John, Anja Laïs, Maik Solbach, undDaniel Holtz, Fabian Rogall
Regie: Sebastian Kreyer
Bühne:Thomas Dreißigacker
Dramaturgie:Michaela Predeick

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vertrackte Interrelationen im Indie-Folk-Rock

Nächster Artikel

Seriös und nachdenklich

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Eva war zuerst da – wer denn sonst?

Bühne | Comedy: Cavewoman Tom flieht aus der gemeinsamen Wohnung. Heike wartet den gesamten Abend auf ihn, würde es jedoch nie zugeben. Ob er zu seiner Liebsten zurückkommt? Amüsant und kein bisschen hektisch macht sie aus der Not eine Tugend und gibt den »zu früh eingetroffenen Hochzeitsgästen« (Zuschauern) praktische Tipps zur Haltung und Pflege eines Mannes! Lachen erwünscht. ANNA NOAH wirft einen vergnüglichen Blick auf das Zusammenleben »moderner« Männer und Frauen.

Die Macht der Illusionen

Bühne | ›Weiße Nächte‹ im Zimmer

Auch die zweite Premiere in Hamburgs kleinstem Theater ist eine große Überraschung, denn sie lädt zum Träumen ein. Die Realität ist auf den Kopf gestellt – was könnte dieses Jahr besser zusammenfassen? Von MONA KAMPE

Auf der Suche nach dem Sinn des Theaters

Bühne | House of Trouble

Selbstreflexion, Reflexion über das Theater – klassisch inszeniert oder modern? All das sind Fragen des Regie-Theaters, aber auch solche, die in »House of Trouble. Das famose Leben der Geizigen« nach Jean-Baptiste Poquelin alias Molière gestellt werden. Stellenweise vermisst man in der Karlsruher Inszenierung am Badischen Staatstheater diese Bezüge und auch den roten Faden – was nichts an der schauspielerischen Qualität ändert. Von JENNIFER WARZECHA

Eine musikalische Wanderung zwischen Imagination und Realität

Bühne | Im Theater: Rusalka im Theater Pforzheim Es gibt Themen und Motive, die gleichsam Fiktion und Realität begleiten. Die Liebe ist so ein Motiv, das die Nixe Rusalka (Banu Böke) sogar die Grenze zwischen Mensch und Natur überschreiten lässt. Auch die Frage von Identität und Unerreichbarkeit ist Thema des lyrischen Märchens in drei Akten von Antonín Dvořák, basierend auf dem Libretto von Jaroslav Kvapil. Von JENNIFER WARZECHA

Von Freiheit und Vulgäranarchismus

Friedrich Schiller: Die Räuber; Staatstheater Darmstadt Schon Marcel Reich-Ranicki wusste, dass Friedrich Schiller bereits in seiner Jugend einen schöneren Sprachstil besaß, als Johann Wolfgang von Goethe in seinem ganzen Leben. Das zeigt natürlich vor allem Schillers Sturm-und-Drang-Debut ›Die Räuber‹ – ein Theaterstück über Liebe und Hass, über Familie und Individualität, über Usurpation und Freiheit. Dennoch wird Schiller heute weniger auf deutschen Bühnen aufgeführt, als sein Freund Goethe. Der Regisseur und Schauspieler Christoph Bornheim tritt dem entgegen und hat ›Die Räuber‹ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt in einer grellen und bunten Version inszeniert, die sich primär – aber nicht nur