Jugendbuch | Anke Stelling: Erna und die drei Wahrheiten
Entscheidungsfreiheit, Verantwortlichkeit, Selbstverantwortung sowie Gerechtigkeit und Fairness jederzeit und überall – so soll es sein. Klingt schön. Es umzusetzen ist alles andere als schön. Von MAGALI HEISSLER
Erna ist sicher, dass sich die Welt gegen sie verschworen hat. Da ist zum einen dieser Vorname. Seit elf Jahren trägt sie ihn, leiden kann sie ihn immer noch nicht. Wie konnte ihre Eltern ihr das antun! Dazu kommt ihr Umfeld. Sie lebt in einem Gemeinschaftshaus und geht auf eine Gemeinschaftsschule. Die ist nach den Brüdern Grimm getauft, die Gruppen der Schülerinnen und Schüler nach Märchen. Erna ist bei den Stadtmusikanten. Genauso unharmonisch geht in es der Gruppe auch zu. Die Lehrerin sagt, daran sei Erna schuld. Erna sagt, dass niemand sie versteht. Wenn sie fair sein will, stört sie, wenn sie Gerechtigkeit verlangt, verletzt sie andere in deren Selbstwert. Wenn sie ihre Aufgaben sehr schnell erledigt, setzt sie sich nicht genügend ein, wenn sie sich einsetzt, ist sie vorlaut.
Dann beobachtet Erna zufällig, wie jemand beträchtlichen Schaden anrichtet. Soll sie sagen, wer es getan hat? Das ist Petzen. Oder doch nicht? Warum eigentlich soll sie sich immer einsetzen? Es kümmert auch niemanden, wie es ihr geht. Überhaupt ist alles wirr und seltsam und voller Widersprüche. Am besten hält man sich heraus. Leider liegt es Erna nicht im Geringsten, sich herauszuhalten.
Unzuverlässige, unsicher Welt
Stellings kleine Heldin sagt am liebsten klipp und klar, was sie von allem und allen hält. Klare Verhältnisse vereinfachen das Leben. Das hat Erna nicht erfunden, so ist sie aufgewachsen. Man lebt zusammen, teilt, man ist füreinander da. Mit einem Mal jedoch scheint ihr Blick geschärft. Überall zeigen sich Brüche, Risse, Widersprüche. Was die Erwachsenen sagen, stellt sich immer wieder als falsch heraus. Missverständnisse sind an der Tagesordnung. Begriffe, die bis dahin eindeutig waren, werden vieldeutig.
Der Blick ins Wörterbuch scheint Hilfe zu bringen. Das erweist sich zunächst als Irrtum, denn die Mehrdeutigkeit tritt nur offener zutage. Fasten und festhalten gehören zusammen, Haltung und Schutz, sogar Missgunst und gönnen. Hört Erna Erwachsenen zu, werden die Botschaften nur rätselhafter. Sie sagen das eine und meinen das andere. Oder sogar etwas Drittes.
Das junge Publikum wird bei dieser Geschichte nicht nur intellektuell herausgefordert, sondern auch emotional. Während Erna Wortfelder erforscht, spitzen sich die Spannungen zwischen den Figuren zu. Freundinnen verändern sich, neue Interessen bringen andere Bekanntschaften, kleine Brüder bleiben nicht klein und Erwachsene zeigen sich alles andere als verlässlich. Eine Reihe charakteristischer Szenen illustriert diese Problematik perfekt. Angesprochen werden die kleinen Leserinnen vor allem von dem sich rasch ausbreitenden Gefühl der Fremdheit und Unsicherheit in einer vor Kurzem noch vertrauten Welt.
Selbstvertrauen
Vor dem Hintergrund eines konsumkompatiblen alternativen Lebensstils mit seinen fiesen hausgemachten Tücken erzählt Stelling eine anregende, stellenweise packende und weitgehend überzeugende Geschichte: Der Übergang von der Kindheit in die Pubertät. Der unschuldige Kinderblick wird schärfer, was Erwachsene tun, schafft mehr Unsicherheit als Sicherheit. Selbstvertrauen ist der Schlüssel dazu. Aber das muss man erst einmal lernen.
Die Herausforderungen, denen sich die elfjährige Erna stellen muss, sind hoch. Sie kommen nicht nur von außen, sondern auch von der Heldin selbst. Allen Irrwegen und allem Irrsinn moderner Zeiten zum Trotz ist sie ein Kind des 21. Jahrhunderts, das sich zwischen Selbstbestimmung und Rücksicht auf andere bewähren muss – die eigentlich Aufgabe beim Erwachsenwerden.
Die Widersprüchlichkeiten spießt Stelling vor allem in ihrer Darstellung der Erwachsenen gekonnt auf. Kindliche Leserinnen werden das nicht immer in Gänze verstehen, da sie die Weiterungen noch nicht kennen. Was sie mitbekommen, sind auf jeden Fall die Konflikte. Stelling hat sich dafür entschieden, diese nicht zu lösen. Die Entscheidung darüber, was richtig ist oder falsch, bleibt den Leserinnen überlassen.
Die Autorin urteilt nicht. Erna urteilt, aber das wiederum dient der Klarstellung, dass es dabei auf keinen Fall schnell zugehen darf. Das schöne Beispiel mit den drei Wahrheiten, das man in Ruhe selbst nachlesen muss, ist ein wichtiger Denkanstoß. Erna lernt unter größten Schwierigkeiten, dass sie in mehrere Richtungen schauen muss, ehe sie genug weiß, um etwas richtig einzuschätzen. Häufige Veränderungen machen das Leben nicht leichter. Erwachsen werden tut weh. Und einen Orden gibt es dafür auch nicht.
Trotzdem gibt es sehr viel Schönes, ein bisschen Liebe kommt in dem Buch nämlich auch vor. Für Erna. Natürlich aus einer Richtung, in die sie bestimmt nicht geschaut hätte.
Titelangaben
Anke Stelling: Erna und die drei Wahrheiten
230 S. 12,99 Euro
München: cbt 2017
Jugendbuch ab 11 Jahren
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