Comic | Musik | Tardi / D. Grange & Accordzéâm: Der letzte Ansturm (Le dernier assaut)
Ein weiteres Mal widmet sich die französische Comic-Größe Tardi dem Ersten Weltkrieg und entfaltet ein weiteres Panorama des Schreckens. Das Album ›Der letzte Ansturm‹ kommt diesmal mit einer Begleit-CD von Tardis Lebensgefährtin, der Liedermacherin Dominique Grange. Musik und Comic sind in ihrem aufrichtigem Verlangen, ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen, stellenweise leider etwas programmatisch geraten. Dabei musste BORIS KUNZ gar nicht überzeugt werden.
Augustin heißt er, der bärtige Sanitäter, dem wir im Niemandsland zwischen den englischen, französischen und deutschen Stellungen an der Somme begegnen. Augustin, der sich so ungeschickt mit der Waffe angestellt hat, dass er zum Sanitätsdienst versetzt wurde, ist ein stoischer Beobachter, der wie viele Männer seiner Zeit den Krieg zwar verflucht, aber dennoch seinen Befehlen gehorchend immer wieder hinaus auf die Schlachtfelder zieht, um seine Mission zu erfüllen. An diesem Tag hat Augustin besonderes Pech: Erst fällt sein Partner Sauvageon dem Schrapnellbeschuss der Deutschen zum Opfer, dann drohen die rasenden Schmerzensschreie seines Patienten auch noch seine Deckung an die »Boches« zu verraten.
»Oh, du lieber Augustin, leg nur ins Grab dich hin«
Doch was als Tour de Force eines einfachen Sanitäters beginnt – ein Soldatenschicksal wie Tardi sie z. B. in »Grabenkrieg« schon des Öfteren eindringlich geschildert hat – nimmt in diesem Album nach und nach eine andere Dimension an. Nachdem Augustin sich aus der direkten Lebensgefahr retten konnte, beginnt seine etwas ziellose Wanderung durch die Schützengräben und die zerstörten Dörfer hinter der Front. Dabei begegnen ihm unterschiedliche Figuren, die alle stellvertretend für verschiedenste Schicksalsgemeinschaften des Ersten Weltkriegs stehen. Von diesen berichtet Tardi in edukativem Duktus: Von der ›Force Noire‹ etwa, Kolonialtruppen aus Schwarzafrika, mit denen Frankreich seine Truppen verstärkte, oder von den ›Bantam Divisions‹, in denen England alle Soldaten versammelte, die unter der vorgeschriebenen Mindestgröße von 1,60 Meter waren und dennoch in den Einsatz geschickt werden sollten. Tardi berichtet vom Schicksal der Kanadier und Russen, die es an die Somme verschlagen hatte, vom Giftgaseinsatz oder von den Tricks der Soldaten, sich durch selbst zugefügte Verletzungen vom Schlachtfeld zu drücken.
Immer wieder verlässt er Augustins Perspektive, um ein breit gefächertes Bild des gesamten Krieges zu entwerfen. Ein wenig schade nur, dass Tardi ausgerechnet in diesem Album nicht umhin kommt, aus dem exemplarisch ausgewählten deutschen Soldaten Ernst einen überzeugten Faschisten, Herrenmenschen und Proto-Nazi zu machen, während die meisten anderen Nationalitäten dem blutigen Treiben kritisch und mit ätzendem Sarkasmus gegenüberstehen dürfen.
Tardi erzählt in langen, ausführlichen Voice-Over Passagen, die er auf visueller Ebene nicht direkt illustriert, sondern eher assoziativ begleitet von den Eindrücken, die Augustin auf seinem ausgedehnten »Spaziergang« sammelt, oder von Bildern, die wohl in Augustins Kopf entstehen – hin und wieder von eruptiven Schlachtenszenen unterbrochen, in denen der Leser Augustin komplett aus den Augen verliert. Augustins Gedanken verschmelzen mit denen Tardis, einem auktorialen und äußerst gut informierten Erzähler, ebenso wie Augustins Erlebnisse mit einem allgemeinen Bilderbogen des Ersten Weltkriegs verschmelzen. Wobei die Perspektive des einfachen Soldaten optisch nie verlassen wird. Distanzierte, übergeordnete Betrachtungen, vergleichbar mit der in Joe Saccos ›Die Schlacht an der Somme‹, gibt es bei Tardi trotz all dem vermittelten Faktenwissen nicht. Dafür aber viel bittere Ironie, Sarkasmus und ein sehr eindeutiges Statement zum Krieg.
Die Comicerzählung, vor allem die stimmungsvollen Zeichnungen sind meisterhaft wie immer und zeigen den Strich eines versierten Künstlers, der seinen Stil schon seit Jahrzehnten gefunden hat und ihn inzwischen mit großer Souveränität beherrscht, ohne sich und dem Betrachter noch etwas beweisen zu müssen. Obschon Tardis Comicseiten hohe ästhetische Ansprüche erfüllen, scheint es Tardi gar nicht darum zu gehen, mit seiner eigenen Kunstfertigkeit zu glänzen. Er möchte sichergehen, dass seine entschiedene Antikriegshaltung bloß nicht hinter seinem Werk untergeht – und hat sich dafür nun auch die musikalische Unterstützung seiner langjährigen Lebensgefährtin gesichert.
»Nur ein groß Leichenfest, das ist der Rest«
Dominique Grange steuert dem Album eine CD bei, die wiederum das Produkt eines multimedialen Liederabends ist, zu dem Tardi auch einige Texte aus seinem Comic in leicht abgewandelter Form beigesteuert hat. Es gibt also inhaltliche Überschneidungen zwischen Musik und Comic, und auch der Meister selbst ist auf der CD zu hören, wie er seine Texte vorträgt. Die Lieder, die Grange mit der Band Accordzéâm eingespielt hat, sind teils überarbeitete Soldatenlieder, teils eigene Kreationen. Diese entstammen der Tradition französischer Chansonniers und dürften dem Hörer gefallen, der sich beispielsweise auch der Musik von Hannes Wader oder Reinhard Mey nahe fühlt. Sogar eine Brecht-Vertonung ist dabei, und die Texte sind in dem Album auch noch einmal abgedruckt – leider ohne deutsche Übersetzung der französischen Originale, was also nur demjenigen viel nützt, der im Französischen versiert ist. Die Botschaft, die dabei in 14 gesungenen und gesprochenen Titeln in diversen Abwandlungen immer wieder an den Mann gebracht wird, ist durchaus gerechtfertigt, aber wenig subtil: Krieg ist ein unmenschlicher Horror, in dem Machtgier und Profitsucht einiger Weniger mit dem Blut von Millionen einfacher Menschen bezahlt wird.
In ihrem Begleitwort betont Dominique Grange, dass das 100jährige Jubiläum der geschilderten Gräuel nicht der Anlass zu diesem Gemeinschaftswerk gewesen sei, dass der Erste Weltkrieg und der Pazifismus im Schaffen beider Künstler immer schon im Vordergrund gestanden habe. Diese Botschaft wird mit so viel gerechtem Zorn vermittelt, dass daran auch wirklich kaum Zweifel aufkommen können. Allerdings sind Tardis Kriegscomics üblicherweise so eindringliche Erzählungen, dass man keine offen ausgesprochenen Antikriegs-Slogans mehr braucht, um seine Botschaft zu verstehen.
Und so gelingt es Tardi auch in diesem Album, seine ausschweifenden Betrachtungen wieder zu fokussieren und am Ende auf das Schicksal von Augustin zurück zu kommen, um nicht nur gegen den Krieg zu wettern, sondern auch eine Geschichte zu erzählen. Diese bringt Tardi zu seinem ebenso tragischen wie (für den Leser) befriedigenden Ende, sodass man mit ›Der letzte Ansturm‹ mehr in den Händen hält, als ein reines Pamphlet mit multimedialem Gimmick.
Titelangaben
Tardi (Text & Zeichnungen) Dominique Grange & Accordzéâm (Lyrik und Musik): Der letzte Ansturm (Le dernier assaut)
Aus dem Französischen von Christoph Schuler
Zürich: Edition Moderne 2016
112 Seiten (+ Audio CD), 32 Euro
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| Homepage der Band Accordzéâm
| TITEL-Rezension von Joe Saccos ›Die Schlacht an der Somme‹