Erwartungen

Kinderbuch | D. u. J.Rübel: vorher und nachher / M.Zedelius: Keine netten Bildergeschichten

Was ist da los? Ein Blick auf eine bestimmte Situation. Wie könnte das weitergehen? Zwei Bilderbücher finden – altersgemäß – unterschiedliche Antworten. Von ANDREA WANNER

Rübel - vorher und nachher - 9783551170569Ganz laute Bohrgeräusche. Schrecklich. So laut, dass sich ein kleiner Junge die Ohren zuhalten muss, während ein Mann – wahrscheinlich der Papa – Löcher in die Wand bohrt. Nicht zum Aushalten. Aber wozu sind die Löcher da? Einmal umgeblättert und man sieht die Lösung: An der hängen jetzt Schienen mit Regalbrettern. Viel Platz für Spielzeug und Kuscheltiere, die der Junge jetzt vergnügt einräumt, während der Vater weitere Bretter bringt.

Auf der nächsten Doppelseite blühende Apfelbäume und ein Kind, das den Bienen zuschaut, wie sie von Blüte zu Blüte fliegen. Einmal umblättern und die Äpfel sind reif, die Bäume voller Früchte und das Kind beißt in einen rotbackigen Apfel.

In ihrem stabilen Pappbilderbuch erzählen Doris und Johanna Rübel fast ohne Worte ganz einfach Geschichten vom vorher und nachher. Etwas geschieht und irgendwie geht es – gut – weiter. Zwei Kinder haben ein Eis, dem einen fällt seines runter, das andere lässt es von seinem schlecken. Ein Junge mit Schwimmflügeln steht am Beckenrand. Springen oder nicht. Das nächste Bild verrät die Antwort. Vieles ist zwingend logisch – wenn zwei Kinder einen Schlitten den Berg hochziehen, werden sie vermutlich – genau: auf dem nächsten Bild den Berg hinunterfahren. Für Kinder ab 2 Jahren sind das neue Erfahrungen, die Mutmaßungen bestätigen können, aber auch neue Erfahrungen ermöglichen. Alltägliche Szenen, die liebevoll gestaltet fast ein bisschen nostalgisch anmuten, machen das Gewöhnliche in 46 Zwei-Seiten-Geschichten zum Besonderen.

Miriam Zedelius macht eigentlich nichts anderes. Sie wählt eine Ausgangssituation, die sie im Bild knapp skizziert. Worte braucht es keine, nur einen Titel. Viele Farben auch nicht, lediglich Rot und Blau. »Familienglück« heißt so eine Story beispielsweise. Zu sehen sind ein Mädchen mit Brille und ein Fisch in seinem Goldfischglas. Beide schauen nicht besonders glücklich. Die Kleine interpretiert den Blick des Fisches. Er ist wohl einsam.

Zedelius - Bildergeschichten - 9783864293566Auf dem zweiten Bild sehen wir sie lächeln und eine Denkblase, die zwei verliebte Fische zeigen. Bild Nummer drei zeigt sie verklärt und glücklich: In der Gedankenblase sind nun drei Fische: Vater, Mutter und Kind. Und der Fisch? Lächelt auch. Bild vier präsentiert ein stolzes Mädchen und zwei lächelnde Fische. Einen, den wir schon kennen und einen zweiten in einem Plastikbeutel. Das Glück scheint zum Greifen nah, zwei Fische, die sich demnächst lieben – und fortpflanzen können.

Das nächste Bild vollendet die gute Tat: Fisch Nummer 2 wird aus seinem Transportgefäß zum Fisch Nummer 1 ins Glas befördert. Und er grinst breit. Wunderbar. Aber Vorsicht. Der Titel warnt. Das sind nicht »Kleine nette Geschichten«, sondern ein L wird durchgestrichen und durch ein N ergänzt. Das sind »Keine netten Bildergeschichten«. Auf dem sechsten Bild ist das Grinsen zum aufgerissenen Maul geworden, in dem der zweite Fisch einfach verschwindet. Gefressen. Aus. Ende. Vorbei. Zurück bleiben ein zufrieden grinsender, dicker Fisch und ein ernüchtertes, verdutztes Mädchen.

Nein, das hat keiner erwartet. Und genau damit spielt Miriam Zedelius mit einfachen, pointierten Illustrationen in ihren sieben Bildergeschichten. Die sind fies, hintergründig und wirklich alles andere als nett. Nein, das ist sogar richtig gemein. Und ungemein witzig.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Doris Rübel und Johanna Rübel: vorher und nachher
Hamburg: Carlsen 2017
96 Seiten, 12,99 Euro
Bilderbuch ab 2 Jahren
| Leseprobe
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Miriam Zedelius: Keine netten Bildergeschichten
München: Tulipan 2017
64 Seiten. 12 Euro
Bilderbuch ab 6 Jahren
| Leseprobe
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ballermann Welke

Nächster Artikel

Lange Schatten

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Ein Survival-Abenteuer in Norwegen

Kinderbuch | Cornelia Franz: Wildesland

Matthis ist irgendwie von dem ganzen Familienurlaub genervt. Stundenlang in Auto zu sitzen, nur um den nächsten, genau gleich aussehenden See zu umrunden, findet er ätzend. Und auf der Heimfahrt von so einer Wanderung eskaliert die Situation. Was daraus wird, ist allerdings überraschend, staunt ANDREA WANNER

Recht und Gerechtigkeit

Kinderbuch | Juli Zeh, Elisa Hoven: Der war’s

Ein geklautes Pausenbrot bringt den Stein ins Rollen. Genau genommen sind es mehrere. Und nicht irgendwelche, sondern Maries Superstullen mit raffiniertem Belag. Zum Glück wird der Täter auf frischer Tat ertappt. Fall gelöst! Nicht ganz. Von ANDREA WANNER

Aufstand der Namenlosen

Kinderbuch | Jean Leroy: Wie heißt ihr denn?

Ein Blick auf die Hand genügt: wir kennen natürlich alle fünf Finger beim Namen. Und wer auf seinen Fuß schaut, stellt schnell fest, dass einem da wenig dazu einfällt. Ein Bilderbuch kümmert sich um diese Ungerechtigkeit. Von ANDREA WANNER

Ein anderer Blick in die Märchenwelt

Kinderbuch | Michael Roher, Elisabeth Steinkellner: Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?

Vermutlich fehlen in kaum einem Kinderzimmer Märchenbücher. Sie erzählen noch immer von mutigen Prinzen, die wunderschöne Prinzessinnen retten, von gefährlichen Drachen und hilflosen Geißlein, von bösen Stiefmüttern und grausamen Hexen. Und weil das manchmal so gar nicht mehr in unser 21. Jahrhundert passt, gibt es Märchenparodien, die das Überkommene freilegen und durch Verdrehungen ad absurdum führen. Und eines davon ist das mit der wundervollen Frage »Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?« Von ANDREA WANNER

Ein Problem und der Versuch seiner Lösung

Kinderbuch | Anushka Ravishankar: Hick! Man kennt ihn als Schluckauf, Gluckser oder Hickser und das wiederholte, durch reflexartiges Zusammenziehen des Zwerchfells hervorgerufene, ruckartige Einatmen, das mit einem komischen Geräusch verbunden ist, nervt. Wie wird man das wieder los? Von ANDREA WANNER