Ein Bilderbuch zum Philosophieren

Kinderbuch | Italo Calvino: Das schwarze Schaf

Warum gibt es Arme und Reiche? Wozu brauchen wir eine Polizei und Gefängnisse? Italo Calvino hat sich dafür schon vor Jahren eine verblüffende Antwort ausgedacht. Sie regt zum Nachdenken an, findet ANDREA WANNER.

Italo Calvino - Das Schwarze Schaf - Mixtvision Alles beginnt im Gleichgewicht, jeder hat was er braucht, es herrscht Eintracht und Frieden – in einer Stadt, in der alle Diebe sind. Das Prinzip ist einfach. Nacht für Nacht ziehen die Einwohner los, brechen in die Häuser ihrer Nachbarn ein und kehren mit ihrer Beute ins eigene, leergeräumte Haus zurück. So sind am anderen Tag alle mit allem Notwendigen versorgt, ehe sie sich nachts wieder zum Stehlen aufmachen. Das funktioniert bestens. So lange, bis ein Ehrlicher aus der Reihe tanzt und das Spiel nicht mehr mitspielt.

Der Anfang vom Ende

Der Ehrliche bleibt nachts zuhause, weil er keinen beklauen will. Das sorgt schnell für Probleme. Denn dadurch, dass er sein Haus nicht verlässt, kann es auch von keinem anderen Langfinger leergeräumt werden. Einer geht also, wie bei der Reise nach Jerusalem leer aus, weil das Haus, das er sich ausgeguckt hatte, nicht geplündert werden kann. Auf der anderen Seite kommt er aber in sein eigenes, leer geräubertes Haus, das er mit nichts füllen kann. Und ein anderer bringt seine Beute heim und stellt fest, dass dort gar nichts fehlt – denn es wäre ja der Job des Ehrlichen gewesen, dieses Haus auszurauben. Die Folgen: Einer hat plötzlich mehr und ein anderer weniger. Und das ist der Beginn einer folgenschweren Entwicklung. Die Kluft zwischen Reich und Arm wächst, ebenso der Wille, den Reichtum zu schützen und zu vermehren.

Italo Calvino, der bereits 1985 starb, stellt in dieser Gesellschaftssatire die Welt auf den Kopf: Ausgerechnet dieser eine, der sich richtig verhält, ist das schwarze Schaf und somit an all dem aus seiner Haltung resultierenden Elend und Leid schuld. Dieses philosophische Gedankenspiel hat die Künstlerin Lena Schall so fantasievoll und ideenreich aufbereitet, dass es ein Bilderbuchgenuss für Klein und Groß ist. Skurrile Knetfiguren bewegen sich durch ihre Collagen, die sie mit Alltagsgegenständen anreichert.

Engelwurzdolden werden zu beeindruckenden Bäumen, an denen die unterschiedlichsten Früchte wachsen. Im magischen Nachtdunkel machen sich die Bewohner des Städtchens mit Schubkarren und bewaffnet mit Besen und Klobürsten auf die nächtlichen Raubzüge. Mit Taschenlampen werden helle Strahlen in die pechschwarze Nacht gezeichnet, weiße Schrift prangt auf dem dunklen Grund.

Die eher karge Szenerie verändert sich im Laufe der Geschichte: Schall lässt Konsumberge wachsen und stattet ihre Figuren mit Champagnerkorkenkrönchen, Eisschirmchen und Christbaumglitzerschmuck aus. Die einen thronen auf einem Berg goldener Schokotaler, andere werden bis aufs letzte Hemd ausgezogen. Diese strecken ihre dürren Knetarme den Reichen entgegen. Schalls Herkunft vom Trickfilm ist dabei unübersehbar und lässt originelle, unverbrauchte Bilder entstehen.

Tja, einer hat sich anderes verhalten als die soziale Gruppe es von ihm verlangt hat. Er ist das schwarze Schaf. Ob das tatsächlich die Ursache für Ungleichheit und daraus resultierender Ungerechtigkeit ist? Italo Calvino jedenfalls glaubte an die Literatur und an das märchenhafte Abenteuer – edel im handgefertigten Schmuckschuber – darüber lässt sich wunderbar nachdenken.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Italo Calvino: Das schwarze Schaf
Illustriert von Lena Schall
München: Mixtvision 2017
32 Seiten, 19,90 Euro
Bilderbuch ab 6 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Das schöne Märchen vom armen Schiffbrüchigen

Nächster Artikel

Jakob Francks zweiter Fall

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Ring frei für die Bukowskis

Kinderbuch | Will Gmehling: Nächste Runde

Da sind sie wieder, die Bukowskis. Und ihr Alltag ist erneut turbulent und voll kleiner Abenteuer, findet ANDREA WANNER

Ziemlich schräge Pläne

Kinderbuch | Birgit Schössow: Oma verbuddeln

Der ›Peter Hammer Verlag‹ warnt ganz zu Beginn des Buches: Hier wird zwar viel gestorben, aber auch viel gelacht. Die Warnung ist sehr ernst zu nehmen, denn wer stirbt, ist keineswegs ein Hamster oder ein anderes geliebtes Haustier. Es sind tatsächlich die Eltern. Ganz plötzlich, bei einem Verkehrsunfall. Zurück bleiben die fassungslosen Geschwister Paul, Mina und Annie, die eines sicher wissen: Niemand bringt sie auseinander oder ins Heim. ANDREA WANNER war schlichtweg begeistert.

Nicht nur bunte Tupfen

Kinderbuch | Lizzy Hollatko: Der Sommer der kleinen Manto Ein Kindersommer voller Erlebnisse, bunt wie die Tupfen auf einem Sommerkleid. Aber natürlich ist das nicht alles, denn die Geschichte stammt von Lizzy Hollatko. Sie hat einen scharfen Blick für die Bruchstellen im vermeintlich glatten Alltagsleben. Von MAGALI HEISSLER

Wenn ein Haus ein Zuhause wird

Kinderbuch | Kelly Jordan: Das kleine Haus am Meer

Also, ich bin dabei: ein Haus am Meer, wunderbar gelegen, ein Traum von Landschaft, in einer Bucht, viel Natur, Tiere und Stille rundum. Das klingt wie aus einem Reiseprospekt, aber diesmal ist es aus einem bezaubernden Kinderbuch, in das sich BARBARA WEGMANN geradezu sehnsüchtig vertieft hat

Überraschung statt Gänsehaut

Kinderbuch | Nils Freytag & Silke Schlichtmann: Lesen ist doof

Eine Geschichte ist das nicht, was hier zwischen den Buchdeckeln lauert, keine Spannung, keine Gänsehaut, kein gutes Ende. Halt, kein gutes Ende? Na ja, vielleicht ja doch. Es ist schon »besonders«, dieses kleine Buch. BARBARA WEGMANN stellt es vor.