Comic | Guy Delisle: Geisel
111 Tage war Christophe André eine Geisel. Als Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation ›Ärzte ohne Grenzen‹ wurde er 1997 im Nordkaukasus von tschetschenischen Separatisten entführt und für eine Erpressung gefangen gehalten, bis ihm aus purem Glück die Flucht gelang. Der Comicdokumentarist Guy Delisle hat den Mann ein paar Jahre später kennengelernt und eine ausführliche Biographie über Andrés Zeit in Gefangenschaft kreiert – in Comicform. Sie heißt ›Geisel‹. PHILIP J. DINGELDEY hat sich das ergreifende und bedrückende Buch angesehen.
Zugegeben, der Sachcomic hat eine sehr eintönige Handlung. Denn nach einer kurzen Entführungsaktion, die gleich zu Anfang ohne jeden Kontext auf den Leser einprallt, passiert an äußerer Handlung nur wenig: André wird in wechselnden Wohnungen gefangen gehalten, mal in einem Zimmer, mal im Keller, mal in einem Wandschrank und meistens auch angekettet. Immer wieder tauchen dieselben Peiniger auf, die ihm Essen oder Zigaretten geben, ihn aber auch missbrauchen und schlechter als ein Tier behandeln.
Doch viel wichtiger ist das psychologische Profil des Opfers, also die innere Handlung. Das ist sehr untypisch für eine optische Kunstgattung wie dem Comic; dennoch funktioniert Delisles Konzept – von einigen Längen der über 400 Seiten dicken Comicdokumentation einmal abgesehen.
André schwankt zwischen lähmender und zunehmender Angst vor einer Ermordung oder der Nichtbereitstellung des Lösegelds, Unsicherheit, dem Stockholm-Syndrom sowie Überlegungen zu einer Flucht, dem Hass auf die Entführer und dem Versuch, in der Isolation nicht den Verstand zu verlieren, indem er Tage und Monate zählt oder militärhistorische Schlachtkonstellationen memoriert.
Diese spannende Kombination lassen auf eindringliche Weise den Leser in den Kopf des Opfers sehen und bei dem Wechselbad aus Hoffnung auf Rettung, Einsamkeit und Angst vor dem Tod mitfiebern. Die Tatsache der vielen Redundanzen und der immer gleichen Tagesabläufe steigern dies zusätzlich.
Eintönigkeit und Angst
Die Zeichnungen unterstreichen gekonnt diese Stimmungen. Ein Großteil der Zeichnungen von ›Geisel‹ ist in ein kaltes Blau getaucht, das die Einsamkeit und Traurigkeit betont. Viele Seiten sind darüber hinaus in identisch formieren kleinen Panels organisiert, was die Eintönigkeit und Routine ausdrückt, die die Überlebensängste zu etwas Alltäglichem machen. Darum stechen ganzseitige Zeichnungen umso mehr hervor, die meistens André angekettet in einem Raum zeigen und somit seine Ohnmacht, Einsamkeit und Isolation nur noch deutlicher machen.
Eine absurde Komponente bekommen die Zeichnungen aber, insofern sie in einem kindlichen Stil angefertigt sind. Delisle zeichnet seine Protagonisten teilweise überzogen und unrealistisch, wie in einem Kinderbuch, obgleich sich die Geschichte um einen rohen, brutalen und ganz realen Macht- und Gewaltakt dreht, der absoluten Objektivierung eines Menschen durch Eingriffsakte, die als Folter gelten können. Indem der Stil und der Inhalt korrelieren, entsteht ein Verfremdungseffekt, der die bedrückende, irreale Stimmung eher noch maximiert und Andrés Fluchtwünsche beziehungsweise Hoffnungen kindisch-naiv wirken lassen – zumindest bis ihm tatsächlich die Flucht gelingt. Aber auch die sehr stereotyp dargestellten Entführer kommen in dem Werk einer Karikatur der echten Bedrohung gleich.
Es steckt mehr hinter ›Geisel‹ als ein bloßer Sachcomic zu einer spezifischen Entführung. Delisle hat einen tiefsinnigen psychologischen Graphic Novel, der nichts für schwache Gemüter ist, geschaffen. Darin spiegeln sich Ängste und Hoffnungen objektivierter Individuen jeder Art wieder, was den Leser über die Formen der Gewalt und Unterdrückung per se nachdenken lässt und darüber, wie man sich selbst in einer solch scheinbar aussichtslosen Lage fühlen würde. Damit gibt Delisle Walter Benjamins Credo recht, nachdem es Hoffnung nur für die Hoffnungslosen gebe.
Titelangaben
Guy Delisle: Geisel
Aus dem Französischen von Heike Drescher
Berlin: Reprodukt 2017
Klappenbroschur, 432 Seiten, 29,00 Euro
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