Gesellschaft | Andrea Ypsilanti: Und morgen regieren wir uns selbst
Kaum jemand wirft zurzeit neidische Blicke auf die Sozialdemokraten, und welche politische Partei möchte schon mit ihnen tauschen. Mit Gerhard Schröder wurde seinerzeit der Abbau sozialstaatlicher Leistungen eingeleitet, wurden einer neoliberalen Politik die Wege geebnet. Das liegt den Sozialdemokraten heute bleischwer im Nacken, und sie krebsen und kämpfen, um sich da loszueisen. Von WOLF SENFF
Die Publikation von Andrea Ypsilanti will neue sozialdemokratische Orientierung vermitteln und erinnert an ihren eigenen Versuch, sich aus den Klammern neoliberaler Politik zu befreien. Nach einem leidenschaftlichen Wahlkampf hätte Andrea Ypsilanti im Jahr 2008 Ministerpräsidentin in Hessen werden können, wenn nicht die Berliner Granden der eigenen Partei sie kaltblütig ausgebremst hätten.
Stabile Verhältnisse
Die Ansätze, eine sich als links verstehende Politik inhaltlich zu verorten, häufen sich, mit Bernie Sanders in den USA stand und mit Jeremy Corbyn in Großbritannien steht zudem ernstzunehmendes politisches Personal mit aussichtsreichen Chancen bereit, dezidiert konservative Regierungen abzulösen.
Die Lage ist dort anders als hier in Deutschland, wo eine große Koalition während der Legislaturperioden 2005-09, 2013-2017 regierte und gegenwärtig erneut vorbereitet wird; nicht zuletzt deshalb gelten die Verhältnisse in Deutschland als stabil, auch im Alltag brechen die Gegensätze nicht so aggressiv auf wie in anderen westlichen Nationen – wir müssen das zu schätzen wissen.
Veränderungsresistenz
Dass es allerdings brodelt, wird niemand abstreiten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt droht brüchig zu werden, sofern nicht eilig Maßnahmen gegen die übelsten Missstände ergriffen werden, und wir wissen längst alle, um was es geht: erschwingliches Wohnen in den Städten, Verringern der Einkommensunterschiede, Restrukturieren der Gesundheitspolitik, Bildung, Infrastruktur etc. p. p.
Wir nehmen außerdem wahr, dass nach zwölf Jahren Angela Merkel eine politische Debatte in Gang kommt, die die Kraft aufbringen kann, dieses oft satte und veränderungsresistente Land wachzurütteln, und all dieses – oh Wunder über Wunder – vermutlich erneut unter einer Kanzlerin Merkel. Kann sein. Man weiß es nicht. Wie spannend.
Klassenkämpferisch?
Genau. Hier kommt Andrea Ypsilanti ins Spiel, die einen informativen und engagierten Überblick über die politische Entwicklung der SPD gibt und die deren gegenwärtige Lage mitsamt den diversen Spannungen beschreibt. Der Problemdruck ist hoch, Andrea Ypsilanti hält grundlegende politische Veränderungen für unausweichlich, sie sieht einen zentralen Hebel in der Steuerpolitik: Erbschaftssteuer, Einkommenssteuer, Kapitalertragssteuer, Vermögenssteuer, Steuern auf Spekulationsgewinne etc.
Dabei könne die »europäische Sozialdemokratie Teil einer historischen Bewegung sein, die eine sozial-ökologische Transformation einleitet« – diese und ähnliche Formulierungen erinnern allerdings sehr an den Mechanik-Baukasten unserer Kindertage, denn so einfach, so lehrbuchmäßig arbeitet die Lebenswirklichkeit nicht, auch eine klassenkämpferische Attitüde steht heute nicht im Vordergrund.
Krasse Kontroversen
Denn die konservative Politik erscheint zerrissener, explosiver als die der ›Linken‹; man denke nur an die bis vor wenigen Wochen zutiefst vergiftete Gesprächskultur zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel. Im Grundsatz geht es dort um den Konflikt zwischen einem strikt konservativen Staatsverständnis und jener neoliberalen Auffassung des Marktes – Merkels marktkonforme Demokratie –, die den regulierenden staatlichen Eingriff vehement ablehnt.
Dies ist eine Konfliktlinie, die sich in den USA weit krasser Bahn bricht und dort für die ›Rechten‹ beträchtliche Schwierigkeiten verursacht, eine stimmige Politik zu gestalten. Die Republikaner sind tief gespalten. Deshalb hätte man es gar nicht nötig, in Deutschland ständig über die Probleme einer gemeinsamen Politik der ›Linken‹ zu klagen.
Rette sich, wer kann?
Wir leben eh in rasanten Zeiten, die Abläufe gewinnen an Tempo, der »Klassenkampf von oben« (Warren Buffet) ist heute schon ein alter Hut, zumal da die ›herrschende Klasse‹ selbst davon zu schwadronieren anfängt. Sie machen sich ernsthaft Sorgen, und das mit gutem Grund. Das Klima kollabiert unter der Last der herrschenden ökonomischen Strukturen, von denen sie selbst nicht wissen, wie sie da herauskommen, und es steht zu befürchten, dass die Devise Rette-sich-wer-kann im politischen Handeln an Gewicht zunehmen wird.
Wenngleich Andrea Ypsilanti auf die Perspektiven einer ökologischen Politik – Bewahrung des Lebens und Erhalt des Planeten – nur am Rande eingeht, zeigt sie Möglichkeiten einer auf das Wohlergehen des Menschen zielenden ›linken‹ Politik, um die gegenwärtige Misere menschlichen Lebens zu überwinden bzw. zu lindern. Selbstverständlich gehört dazu, dass wir unsere Lebensweise von Grund auf ändern, Andrea Ypsilanti verweist auf diverse konkrete Ansätze.
Titelangaben
Andrea Ypsilanti: Und morgen regieren wir uns selbst
Eine Streitschrift
Frankfurt/Main: Westend Verlag 2017
256 Seiten, 18 Euro
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