Jugendbuch | Tanya Lieske: Mein Freund Charlie
Nach den Ferien ist es eine typische Aufgabe, in der Schule aufzuschreiben, was man in den Ferien erlebt hat. Dass eine Lehrerin die Antwort »Das geht nicht« nicht akzeptiert, ist klar. Was daraus wird, ist eine Überraschung, findet ANDREA WANNER
Niks lebt mit seinem alleinerziehenden Vater in Riga und freut sich auf die Sommerferien. Die sind jetzt vorbei und waren in jeder Hinsicht außergewöhnlich. » … ziemlich gefährlich … und kompliziert … es kommen echte Verbrecher darin vor«, fasst Niks die Wochen zusammen – und kommt natürlich nicht um den Aufsatz herum, der drei von Frau Mironovas, der Lehrerin, karierten Heften füllen wird. Es beginnt mit einer Busfahrt von Riga nach Berlin und endet schließlich wieder in Riga. Dazwischen liegt eine ungeheuerliche Geschichte.
Wirtschaftsmigration
Menschen müssen Geld verdienen und wenn es dort, wo sie leben, keine Arbeit gibt, ist es ziemlich einleuchtend, dass sie dorthin gehen, wo sie Arbeit finden. »In Deutschland haben alle eine Arbeit.« In Lettland ist das schwierig geworden. Niks Vater erklärt ihm, der Bausektor sei weggebrochen. In Deutschland dagegen nicht. Da bräuchte man Leute wie ihn, die sich als Gipser aufs Verzieren, Gipskanten-Ziehen, Schleifen und Schönmachen verstünden. Das klingt einleuchtend und einfach. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Niks, der in Riga trotz aller Schwierigkeiten, behütet und geliebt aufgewachsen war, erlebt die Armut und Trostlosigkeit einer Unterkunft für Flüchtlinge und Migranten in Deutschland, in der ganz unterschiedliche Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern wohnen. Alles ist fremd, ungewohnt und kein bisschen einladend. Mahris ist den ganzen Tag auf Arbeitssuche, Nils sich selbst überlassen. Er beobachtet, lauscht dem fremden Sprachengewirr, sortiert die Menschen: »Frauen mit Kopftüchern – arabisch. Männer mit Kinderwagen – deutsch. Frauen mit kurzen Haaren – deutsch. Männer vor Gläsern mit grünem Tee – arabisch.«
Der einzige Kontakt, den er findet, ist der zu Charlie – obwohl sich Russen und Letten eigentlich nicht leiden können, wie beide betonen. Charlie lebt mit seinem älteren Bruder auch in der Unterkunft und sie haben ihre eigenen Methoden zu Geld zu kommen. Niks ist gleichermaßen hingerissen wie abgestoßen. Und während sein Vater versucht, auf Baustellen mit ehrlicher Arbeit Geld zu verdienen, gerät Niks in gefährliche, nicht legale Situationen und bleibt dabei kein unbeteiligter Beobachter.
Tanya Lieske mutet den jungen Leserinnen und Lesern einiges zu. Es ist sicher nicht richtig, was Niks macht, aber hat er überhaupt eine andere Chance? Die Situation wird so verzwickt, das Niks zum Handeln gezwungen wird. Alternativen scheint er keine zu haben. Und Charlie? Lieskes Kunstgriff, dass von den kriminellen Aktionen im Wesentlichen Reiche und dann vor allem andere Verbrecher betroffen sind, scheint die Situation zu entschärfen. Bei genauem Hinsehen tut sie das natürlich überhaupt nicht.
Ordnungsstaatliche Eingriffe zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung gibt es in der Geschichte nicht, eine merkwürdig geschlossene Welt wird da entworfen – was schade ist, denn Glaubwürdigkeit ist sonst die große Stärke des Buches. So aber gibt es die »guten« Bösen und die »schlechten« Bösen, die sich gegenseitig beklauen und bekämpfen. Beutegut wechselt den Besitzer und die eigentlich Geschädigten – Privatleute, Ladenbesitzer, wer auch immer – kommen gar nicht vor. So droht stellenweise ein Abdriften in einen Abenteuerroman sowie der Verlust der sozialkritischen Perspektive, die ja das eigentliche Anliegen Lieskes ist.
Was bleibt, ist eine wunderbar beschriebene Freundschaft, die alle Facetten von einer Notgemeinschaft bis zu echter Zuneigung auslotet. Und eine spannende Vater-Sohn-Geschichte, in der die Verantwortung nicht immer ausgewogen verteilt ist. So kommt noch der große Bruder des Vaters als eine Art Übervater ins Spiel. Jeder muss sich mit seiner Rolle auseinandersetzen, sie neu definieren und sich ihr stellen.
Das Ende ist ein außergewöhnlich glückliches und trotzdem kein ganz überraschendes. An vielen Stellen waren kleine Hinweise versteckt und der große Kniff, das alles rückblickend Niks als Aufsatz zu Papier zu bringen lassen, entschärft ohne Spannung zu nehmen. »Viss būs labi« – Mach dir keine Sorgen – das Motto von Mahris funktioniert nicht so einfach wie gedacht. Zuversicht und Vertrauen sind die wichtigsten Grundlagen für das Gelingen des Lebens.
Auch Kinder werden nicht von Problemen verschont, wenn das Geld zum Leben fehlt. Das muss nicht gleich so krass aussehen wie bei Niks. Auch hierzulande gibt es Kinderarmut und die davon Betroffenen leiden. Niks und Mahris kehren nach Riga zurück, wo sie mit einer guten Idee in der Tasche eine bessere Zukunft erwartet. Auch das funktioniert vermutlich so nur in einem Jugendbuch. Lesenswert ist dieser Abstecher in eine fremde Welt, die so nah vor unserer Tür liegt, allemal.
Titelangaben
Tanya Lieske: Mein Freund Charlie
Weinheim: Beltz & Gelberg 2017
168 Seiten, 12,95 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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