Manche ersten Begegnungen stehen einfach unter keinem guten Stern. Dazu gehört eindeutig die von Elena und Atlas. Aber es kommt noch schlimmer. Von ANDREA WANNER
Elena steht am Bahnhof und tut merkwürdige Dinge: sie wirft ihr Handy in den Müll und schneidet sich die langen Haare ab. Sie wartet darauf, abgeholt zu werden, aber niemand kommt. Dafür reitet ein Junge auf einem Pferd an ihr vorbei, den sie nach dem Weg fragt. Er begleitet sie ein Stück zum Waldweg und sie erzählt, dass sie unterwegs ist zu ihrer Tante und deren »creepy« neuer Familie: einem Typ, der mit der Axt Figuren gestaltet und zwei Kindern, Atlas und Kennedy. »Hast du jemals solche idiotischen Namen gehört?«, fragt sie ihren Begleiter, ohne zu ahnen, dass er kein anderer als Atlas ist.
Aber das ist erst der Anfang der Katastrophen. Tante Maud ist krank, leidet an Long-Covid, Kennedy entpuppt sich als elfjähriges Mädchen, der Onkel Ivar ist ein schweigsamer Typ, der eigentlich keine Menschen mag und Atlas hat jede Menge Geheimnisse. Aber auch Elena hat eines. Sie hat als Influencerin Leni Troubleshooting einen echten Shitstorm verursacht. Die vier Wochen bei den Verwandten sind eine Art Strafmaßnahme, um Elena aus der Schussbahn zu bringen, bis ein wenig Gras über die Sache gewachsen ist.
Wenn sie allerdings dachte, in ihrem Leben herrsche ein Durcheinander, muss Elena im Kreis der neuen Familie schnell begreifen, was Chaos wirklich bedeutet. Vor drei Jahren starb die Mutter von Atlas und Kennedy, die Frau von Ivar bei einem Verkehrsunfall. Darüber wird nicht gesprochen, jeder versucht irgendwie mit seinen Problemen selbst klarzukommen und entwickelt dabei ganz unterschiedliche Strategien. Das wiederum kennt Elena. Wird sie auch hier einen noch größeren Scherbenhaufen zurücklassen? Es sieht ganz so aus.
Eine versierte Autorin wie Anna Woltz weiß genau was passiert, wenn so ein unterschiedliches Paar wie Elena und Atlas aufeinandertrifft. Das knallt, sprüht Funken und sieht zunächst aus, als ob die beiden gegensätzlicher nicht sein könnten. Und doch lauern da unter der Oberfläche auch Gemeinsamkeiten. Die eine ist ans Ende der Welt geflohen, der andere sieht das Ende der Welt kommen und will unbedingt darauf vorbereitet sein. Die eine große Katastrophe in seinem Leben konnte er nicht verhindern, weitere darf es nicht geben. Verzweiflung, Wut, Hilflosigkeit: die Figuren in diesem Buch kennen das. Und wehren sich dagegen. Nicht immer klug, nicht immer erfolgreich, aber mit Kampfgeist. Und leider zu oft einsam und ohne Verbündete zu suchen. Vielleicht lässt sich da etwas ändern.
Abwechselnd lässt Woltz Elena und Atlas erzählen, liefert Einsichten in Verletzungen, Kränkungen und Enttäuschungen und einen jeweils sehr eigenen Blick auf die Welt. Wenn man die beiden Erzählstränge zusammenfügt, ergibt sich das große Ganze, erkennen die Leserinnen und Leser die Nahtstellen, Brüche und Fehler – und die Chancen!
Titelangaben
Anna Woltz: Atlas, Elena und das Ende der Welt
Hamburg: Carlsen 2024
192 Seiten, 12 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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