Hoffnungslos

Film | Im Kino: A Beautiful Day

Sieben Minuten applaudierte das Publikum in Cannes. ›A Beautiful Day‹ hatte zuvor in einer unfertigen Fassung seine Premiere gefeiert. Regisseurin Lynne Ramsay hat die Erzählung des Autors Jonathan Ames mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle verfilmt. FELIX TSCHON möchte wissen, ob die Zuschauerinnen und Zuschauer zurecht applaudierten.

Ihr Retter

Film - A beautiful day Als Joe brutal in ein Kinderbordell eindringt, um eines der Gepeinigten zu befreien, untermalt das eine träumerische Rock-’n‘-Ballade. Mit dem Hammer, dem Lieblingswerkzeug, mischt die Hauptfigur des neuen Ramsay-Werks Sicherheitspersonal und Freier auf, macht sich dann auf die Suche nach der Zielperson.

Wenn ein Kind verschwindet, ist Joe (Joaquin Phoenix) der Mann, den man ruft. Der ehemalige – nun etwas übergewichtige – US-Marine und FBI-Agent, selbst körperlich und mental gezeichnet, erfüllt derartige Aufträge geschäftlich, in seinem Privatleben kümmert er sich um seine alte Mutter (Judith Roberts). Als er Entführungsopfer Nina Votto (Ekaterina Samsonov) finden soll, die entführte Tochter eines New Yorker Senators, geraten die Dinge außer Kontrolle.

Menschliche Abgründe

›A Beautiful Day‹ ist nichts für Zartbesaitete. Der vierte Film über Spielfilmlänge von Lynne Ramsay hat menschliche Abgründe zum Thema, nicht nur auf Seite des Bösen. Wer das verträgt, blickt hohem Niveau entgegen: Der Schottin gelingt ein Thriller, der durch Atmosphäre und Dramatik besticht.

Ramsay schafft es, eine spärliche Geschichte getreu der Vorlage und dennoch innovativ ins Kino zu bringen. Sie verwandelt die 99 Seiten des Buchs in 90 intensive Leinwandminuten. Die 48-Jährige stellt die Düsternis der Story und die Ausweglosigkeit ihrer Charaktere handwerklich gekonnt dar. In ihrer Kreativität erinnert sie dabei bisweilen an Nicolas Winding Refn („Drive“, „Only God Forgives“).

Filmharmonie

Lynne Ramsey schrieb auch das starke Drehbuch, in Cannes wie Darsteller Joaquin Phoenix ausgezeichnet. Es ist ein karges Skript. Prägnante Dialoge und ein einfach gehaltener Plot machen es aus.

Kamera, Schnitt und Musik zeichnen sich für die bedrohliche Stimmung verantwortlich. Kameramann Thomas Townend sorgt für New Yorker Noir mit Neonlicht. Cutter Joe Bini, der mit Ramsay bereits beim Drama ›We Need to Talk about Kevin‹ zusammengearbeitet hatte, überragt durch schnelle, angsteinflößende Schnitte. Bemerkenswert, dass der verstörende Score von Radiohead-Musiker Jonny Greenwood, wie Bini 2011 schon beteiligt, sehr nah an das Drehbuch angelegt ist.

Phoenix auf dem Weg zur Katharsis

Diese einzelnen Bestandteile des Werks geben der Hauptfigur einen stimmigen Hintergrund, obwohl Joe weitestgehend unbekannt bleibt. Einige Rückblenden verraten eine von Missbrauch geprägte Kindheit, außerdem traumatische Kriegserinnerungen. Ob er in der Gegenwart mehr mag als alte Radiomusik, das Publikum erfährt es nicht.

Joaquin Phoenix spielt, wie er es am besten kann. Die physischen Narben seines Charakters sind sichtbar, die psychischen lassen sich dank des Puerto Ricaners erahnen. Denn wie gewohnt übermittelt er das Gefühl, dass sich das Wissenswerte über Joe in dessen Kopf abspielt. Phoenix interpretiert seine Rolle eines suizidalen Soziopathen mit dezentem Wahnsinn. Er überspielt zu keinem Zeitpunkt, trotz zahlreicher Gewaltexzesse und sogar einer biblisch-anmutenden Szene auf dem Weg zur Katharsis seiner Figur.

Kein schöner Tag

»Beautiful« ist an ›A Beautiful Day‹ eigentlich nichts. ›You Were Never Really Here‹ heißt der Film im Original; der ebenfalls englischsprachige Titel verrät auch mehr über die Hoffnung, die die Hoffnungslosen in der Erzählung mit sich tragen.

Unbedingt sehenswert ist das Werk von Lynne Ramsay aber – wenn Sie es vertragen. Die Regisseurin wollte wohl zeigen, was in ihr steckt, und das ist auf allen Ebenen gelungen. Herausgekommen ist ein dramatischer und unbarmherziger Thriller, der in Abgründe blickt. Nichts für die, die die Augen gerne mal schließen.

| FELIX TSCHON

Titelangaben
A Beautiful Day
Regie und Drehbuch: Lynne Ramsay
Darsteller:
Joaquin Phoenix: Joe; Judith Roberts: Joe’s Mother
Ekaterina Samsonov: Nina Votto
Kamera: Thomas Townend
Musik: Jonny Greenwood

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Unruhe harmonischer Indie-Songs

Nächster Artikel

You Disco I Freak: New Single Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Spreu vom Weizen

Film | Im TV: Polizeiruf 110 – Käfer und Prinzessin (RBB), 6. April Das Landleben ist auch nicht mehr, wie’s mal war. Ort der Handlung: Ein Öko-Bauernhof, bewirtschaftet von einer Landkommune. Wie rücksichtsvoll, dass die Leiche in der Jauchegrube des Nachbarhofs auftaucht. »Ach du lieber Himmel. Ist ja furchtbar«, sagt Horst Krause (Horst Krause) beim Anblick der Leiche. Er hat ja völlig recht. Lange Zeit ist nicht geklärt, ob es sich um einen Mord oder um fahrlässige Tötung handelt, doch Olga Lenski (Maria Simon) und Horst Krause ermitteln in alle Richtungen, das ist tröstlich. Von WOLF SENFF

Deutsch-polnische Kooperation

Film | Im TV: Polizeiruf 110 – ›Ikarus‹, 10. Mai Ein junger Mann, schwer verletzt, hängt in einem Baum. Daniel Reef ist Kunstflieger, erfahren, kompetent, wie soll er aus seiner Maschine gefallen sein, wie stellt man sich das vor. Die Maschine selbst, wer flog sie weiter? Die junge Frau, mit der sich der Pilot auf einem Handy-Foto zeigt? Ist sie sicher gelandet? Falls ja, wo? Rätselhafte Zusammenhänge gilt es aufzuklären. Von WOLF SENFF

Das letzte Chamäleon

Film | Interview ›Welcome to Sodom‹ ›Welcome to Sodom‹ ist eine bildgewaltige, apokalyptische Doku über Europas größte Elektromüllhalde – mitten in Ghana. »Ghana steht der ökologische Kollaps bevor«, resümiert der Filmemacher Florian Weigensamer über die dunkle Seite unserer elektronischen Glitzerwelt, recycelte Frankenstein-Computer und Kultur als »last frontier« der Menschlichkeit. Ein Interview von SABINE MATTHES.

Koalitions-Geplauder

Interview | Im TV: Anne Will. Polittalk (ARD) 3.12.17, 21:45 Uhr Seit Monaten befassen sich unsere diversen Politik-Talkshows mit Wahlen und Regierungsbildung. Bei Frau Will, man denke, läuft dieses Thema dauerhaft seit dem zwanzigsten August, ein einziges Mal unterbrochen von der aus USA herübergeschwappten #metoo-Debatte. Wir werden berieselt, wir werden eingelullt. Von WOLF SENFF

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.