/

Wurzeln des Lebens

Kulturbuch | Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt

Naturphilosophie ist ein weites, endloses Feld. In der Moderne gibt es eine starke Anbindung an naturwissenschaftliche Methodik und Erkenntnisse und schwächere Ansätze, die an die antike Lehre des Parmenides anknüpfen, einem Vorsokratiker, der die Idee einer Einheit von Sein und Denken ausbildete. Von WOLF SENFF

Emanuele Coccia: Die Wurzeln der WeltAuch die Überzeugung pantheistischer Grundzüge aller Dinge wird seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufgegriffen, sie findet in Giordano Bruno, der von einem beseelten Weltall überzeugt ist, einen bedeutenden Vertreter.

Vom Atem

Generell jedoch, so Coccia, habe die Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert zugelassen, daß die Betrachtung der Welt der Dinge in den Einzelwissenschaften geschehe; die Philosophie selbst gliedere sich in die Human- und Sozialwissenschaften ein und strebe danach, sich der Reihe der Einzelwissenschaften zuzuordnen.

Coccia läßt sich diesen Positionen nicht zuordnen, er grenzt sich gegen die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts grundsätzlich ab, sucht nicht, etwa in der Nachfolge Heideggers, nach Standort und Bedeutung des Menschen innerhalb der Welt, sondern Coccia sieht ihn als integrierten Teil in einer Welt der wechselseitigen Bedingtheit, den der elementare Vorgang des Atmens beschreibe. Jedes Atmen sei ein Vorgang des Eintauchens in die Atmosphäre, in die Sphäre des Lebendigen. Die Atmosphäre wiederum sei der Lebenshauch, der die Erde in ihrer Gesamtheit animiert.

Eintauchen in Welt und Leben

Die wissenschaftliche Betrachtungsweise sei nach wie vor geozentrisch, sie klammere die Sonne als ein für alles Leben zentrales Organ gänzlich aus. Coccia bedient sich nicht der in den Naturwissenschaften üblichen atomisierenden, aufspaltenden Untersuchungsmethode, im Gegenteil, er spürt den Orten nach, in denen die Zusammenhänge wirksam werden und setzt sich vehement gegen trennende, vereinzelnde, abspaltende Betrachtungsweisen zur Wehr: alles ist in allem.

Man staunt zunächst über seine eigenwillige Wahrnehmung des Lebendigen. Das Blatt eines Baums sei aufgrund der Photosynthese ein kosmisches Bindegewebe, ein Klimalabor, das, selbst lebendig, die Atmosphäre als die Grundlagen irdischen Lebens schaffe. Das Leben sei ein ständiges Eintauchen in fließende Milieus, Coccia nennt als Beispiel die Musik, deren Wahrnehmung für den Menschen ein Eintauchen in eine Klangwelt sei. Es sei ganz und gar unzulässig, die Beziehung zur Welt auf Kognition und Aktion zu reduzieren.

Vernunft und Blüte

Jede Äußerung des Lebendigen sei in kosmische Zusammenhänge verwoben, und für Coccia ist auch eine astrologische Sicht auf die Zusammenhänge sinnvoll und hilfreich – wie man sieht, grenzt sich Coccia konsequent gegen die wissenschaftliche Moderne und das von ihr gesponserte Ingenieurswesen – Fukushima, Deepwater Horizon – ab.

In der Blüte und der Fortpflanzung erkennt er als Grundmuster der Sexualität die Öffnung zur Welt, die Begegnung mit einer Vielfalt lebendiger Lebensformen. Der Samen sei ein Merkmal der Materie, das Wissen und Bewusstsein trage, und das definiere ihn als ein Gehirn, mehr noch, die Materie existiere und lebe in geistdurchdrungener Form, die Vernunft verkörpere sich in der Blüte.

Das alles erscheint kompliziert, hat eine Nähe zu phänomenologischen Ansätzen und liegt jedenfalls weit entfernt von den akademisch etablierten philosophischen Modellen. Die Gegenwart ist krisenhaft und nähert sich der Besinnung auf den Wert und Unwert jahrhundertelanger Vorherrschaft westlichen Denkens. Coccia knüpft an pantheistische Ideen an, und das ist ein notwendiger Schritt im Hinblick auf die Rückbesinnung auf das tief in der Natur verwurzelte Leben.

| WOLF SENFF

Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen
(aus dem Französischen von Elsbeth Ranke)
München: Carl Hanser 2018
190 Seiten, 20 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays… Maria Solheim – die schöne Leichtigkeit

Nächster Artikel

Family Horrors And Hidden Paradises: New Album Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Im Rausch(en) der Geschwindigkeit

Ausstellung | Kulturbuch | Christoph Naumann: ›Rauschen‹ in Würzburg (BBK Galerie) Fußgänger und Autobahn. Zwei Formen der Bewegung prallen in der Arbeit des Würzburger Fotografen Christoph Naumann aufeinander. Großformatige Landschaftsbilder zeigen Räume und Orte, denen normalerweise keine Beachtung geschenkt wird. Weil wir sie im Temporausch übersehen – oder zu Fuß nie besuchen würden.

Frittierte Sardellen und Stockfischkroketten

Kulturbuch | Mina Holland: Der kulinarische Atlas »Mit jedem Essen reisen wir«, findet Mina Holland – und bietet sich sogleich als Tour Guide durch die Regionen dieser Welt an. So liest sich ›Der kulinarische Atlas‹ als Reiseführer und kulturgeschichtliche Abhandlung, als Nachschlagewerk und Bibliographie, als imaginäre Landkarte und deliziöse Inspirationsquelle. Von INGEBORG JAISER

Mit ganzer Leidenschaft

Kulturbuch | Jean-Philippe Toussaint: Fußball Zugegeben, zuzeiten der Europameisterschaft sind wir übersättigt von Fußball, er zeigt sich unverblümt als ein kalkuliertes Geschäft, eingebettet zwischen Terrorängsten und Kontrollwahn. Doch es gibt da ein Buch, ich möchte Ihnen das nicht vorenthalten, das weder mit Hooligans zu tun hat noch mit Sicherheitsvorkehrungen, auch nicht mit Viererketten oder mit Umschalten und nicht mit Trainern, die keine Kinderstube kennen. Von WOLF SENFF

Historische Arbeit mit Gegenwartsbezug

Kulturbuch | Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion Dierk Walter mischt die Vergangenheit auf und man kann dem so gar nichts entgegenhalten. Europa als Friedensmacht? Die Freie Welt als Vorbild? Nein, kommt nicht vor. Dierk Walter widmet sich der »politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtprojektion«, ausgehend vom »kapitalistischen Zentralstaat der westlichen Moderne«. Von WOLF SENFF

Fernab von Instagram und Co

Sachbuch | Offline – Urlaub ab vom Schuss Allein schon die Aussicht, einmal dem Funknetz zu entfliehen, ein paar Tage, Wochen, so richtig unerreichbar zu sein, sie verlockte BARBARA WEGMANN dazu, in diesem Buch zu blättern. Einem Buch, das die Sehnsucht schürt, die Fantasie anregt und durchaus dieses Fernweh der besonderen Art aufkommen lässt.