Kulturbuch | Jerry Brotton: Die Geschichte der Welt in zwölf Karten
In einer Zeit, in der Routenplaner, Navigationsgeräte und ein digitaler Blick auf unsere Erde die Wege planen, die wir nehmen, haben Karten ihre Bedeutung verloren. Vorbei die Zeit, in der man sich fragen musste, ob man die Stadtkarte richtig herum hält. Jerry Brotton sieht das anders. In ›Die Geschichte der Welt in zwölf Karten‹ erklärt er, wie Karten unsere Weltsicht und unser Denken geprägt haben und immer noch prägen. VIOLA STOCKER über gezeichnete Wegweiser und wegweisende Zeichnungen.
Die Geschichte der Kartographie beginnt vor vielen Tausend Jahren, als im 6. Jh. v.Chr. in Babylonien ein Stein gefunden wurde, der eine Darstellung Babylons und der umliegenden Gebiete enthält. Eine Karte? Wohl kaum. Der Historiker Jerry Brotton sieht darin eher ein Weltbild, das Babylon als Zentrum des Denkens versteht. Was ist eine Karte? »Ein Abbild der Welt in einem bestimmten Maßstab«, möchte man denken. Doch ein kleiner Fingerzeig verunsichert unser Denken, denn: Die Welt ist rund, die Karte flach. Daraus ergeben sich im Laufe der Weltgeschichte faszinierende Darstellungen und Denkweisen, die allesamt mehr sind als ein Bild der Welt auf einem Informationsträger.
Am Anfang war das Wissen
Es gibt unzählige Karten von der Erde. Jerry Brotton hat sich zwölf herausgefischt, die er unter ganz bestimmten Themenschwerpunkten analysiert. Selbige haben auf den ersten Blick wenig mit Kartographie zu tun. Er beginnt mit »Wissen«, der Geographie des Ptolemäus (150 n.Chr.). Claudius Ptolemäus war der letzte Hüter des größten intellektuellen Schatzes der Antike: der Bibliothek von Alexandria. Als Bibliothekar oblagen ihm die Katalogisierung und der Neuerwerb relevanter Werke. Bevor die Bibliothek abbrannte und zu einer Karikatur ihrer selbst verkam, trug Ptolemäus alles ihm bekannte Wissen über Geographie aus der Antike zusammen und entwarf einen Führer und ein geographisches Regelsystem, das heute noch als das »Weltbild des Ptolemäus« bekannt ist.
Ptolemäus lieferte erstmals Ansätze zur Berechnung von Längen und Breitengraden, eine topographische Liste von über 8000 Orten auf der damals bekannten Welt, astronomische Grundlagen für geographische Untersuchungen, eine Anleitung zur Erstellung von Karten und eine Übersicht über damals bekannte Gebiete und Religionen auf der Erde. Es war das umfassendste Werk zur Geographie, das je geschrieben wurde. Es wurde nach 1000 Jahren in Vergessenheit in Byzanz wieder entdeckt und bildete die Grundlage für Forschungen, Karten und Eroberungen. Die Berechnungen Ptolemäus‘ und sein Wissen über die Welt waren aber teils fehlerhaft, was die Darstellung der Erde lange prägen sollte und ein Grund dafür war, dass Kolumbus viele Hundert Jahre später dachte, einen Seeweg nach Indien gefunden zu haben. Zudem war Ptolemäus‘ Geographie logischerweise eurozentrisch, aufgrund der mathematischen Verzerrungen war Europa im Verhältnis größer dargestellt als beispielsweise Afrika. Daraus gerierte auch eine Arroganz des Denkens, das jahrhundertelang durch die Gelehrtenkreise Europas mäanderte.
Austausch und Eroberung
Jerry Brotton analysiert auf spannende Weise, wie die Kartographie sich von einer Wissenschaft für sich zu einem Instrument wandelte. Als im Mittelalter auf Sizilien der maurische Forscher al-Sharif al-Idrisi im Auftrag des normannischen Königs Rogers II 1154 ein geographisches Kompendium namens Reise des Sehnsüchtigen, um die Horizonte zu durchqueren verfasste, spielte die Wissenschaft für al-Idrisi eine größere Rolle als für Roger II. Letzterer wollte sich ein wissenschaftliches Denkmal setzen lassen, aber auch seine praktische Kenntnis von den Orten und der Gestalt der Welt erweitern. Die Mauren, die durch ihre Eroberungszüge längst Südspanien in Besitz genommen hatten, besaßen hervorragende geographische Kenntnisse.
Al-Idrisi arbeitete jahrelang am intellektuellen Vermächtnis seines Auftraggebers und schuf seit Ptolemäus die umfassendste Beschreibung der damals bekannten Welt. Zudem ist das Werk eines Muslim für einen christlichen Auftraggeber auch ein Zeugnis für den teilweise stattfindenden regen Austausch zwischen den Kulturen, der aber mit Aufkommen der Kreuzzüge ein blutiges Ende finden sollte. Karten aus dieser Zeit waren meist nach Süden ausgerichtet und versuchten, die bekannte Welt von einem erhabenen Blickwinkel aus darzustellen. Wie schwierig das sein konnte, lässt sich im Zeitalter von Satellitenbildern kaum mehr nachvollziehen.
Glaube und Globalismus
Als das Christentum in Europa seinen Siegeszug antrat, entstand die nach Osten ausgerichtete Herefordkarte – mappa mundi (1200 n.Chr.). Sie ist mit die schwierigste Weltkarte im Buch. Nicht nur ist die Spitze nach Osten – Jerusalem – gerichtet, sondern sie verbindet die Weltkarte mit einer religiösen Interpretation. Eine korrekte Darstellung von Kontinenten und Flussverläufen ist unwichtig, was es schwierig macht, z.B. Großbritannien oder Dänemark auf der Karte zu finden. Italien, Hauptsitz des Papstes, ist verzerrt und vergrößert, die arabische Halbinsel schließt zu direkt an Europa an. Gleichzeitig ist die Karte übersät mit religiösen Erläuterungen und mythischen Geschichten. Ein Weltbild oder eine ideologische Landkarte?
Auch die koreanische Karte, die vom neokonfuzianischen Reformer Kwon Geun 1402 als Kangnido-Karte verfasst wurde, setzt sich weniger mit geographischer Korrektheit als mit der Definition eines Imperiums und eines Königreiches auseinander. Wie kann sich eine Nation selbst erfinden, wenn der dominante Nachbar China nur Unterwerfung duldet? Die faszinierende Geschichte der Kangnido-Karte erklärt, wie sehr Machtstrategien und Diplomatie die Erstellung von Karten beeinflusst haben. Das Resultat konnte keine wirklichkeitsgetreue Karte sein, sondern ein das Verhältnis von Korea und China widerspiegelndes diplomatisches Dokument, das es dem koreanischen Volk dennoch ermöglichte, sich selbst zu finden.
Entdeckung, Toleranz und Geld
Brotton ist ein wunderbarer Reiseführer durch die Geschichte der Kartographie. Nie geizt er mit Wissen, das er wunderbar in Geschichten eingebettet präsentiert, sodass sich ein wissenschaftliches Thema durchweg spannend liest. Als es um die Entdeckung Südamerikas geht, um korrekte Küstenverläufe und Seewege, befindet man sich längst wieder auf vertrautem Terrain. Die Kontinente beginnen, so auszusehen, wie wir sie heute kennen und wir lernen, dass große Handels- und Herrscherhäuser ihren Kartographen viel Geld für korrekte Seekarten bezahlt haben. Es herrschte ein Wettlauf um die besten Handelsrouten und Seewege, um entlegene Gegenden zu erkunden, zu erobern und auszubeuten. Diogo Ribeiro und Mercator lieferten die Karten dieser Zeit, die hauptsächlich nützlich zu sein hatten.
Mercators Lieblingsaufgabe, einen Atlas von der Welt herauszugeben, zeigt zudem, dass die Kartographie in Zeiten des entstehenden Buchhandels eine blühende Disziplin geworden war. Sein Atlas war an Kunstfertigkeit lange unübertroffen und nur Joan Blaeu vermochte 1662 ihn noch zu verbessern. Sein Atlas maior war ein kostspieliges Prestigeobjekt, das in den Bibliotheken der Reichen und Gebildeten Europas anzufinden war, während Blaeu sein Einkommen noch immer mit Handelskarten für niederländische Handelsgesellschaften verdiente. Sein Atlas war derart kunstfertig, dass Darstellungen hieraus in den Amsterdamer Rathausboden eingelassen wurden.
Karten für den Krieg
Als die Familie Cassini 1793 ihre Karten von Frankreich fertigstellten, war das französische Königshaus in Folge der Revolution längst entmachtet. Doch auch die neue Regierung, vor allem später Napoleon, erkannten schnell den Wert von gut gemachten Karten. Nun entstand die Riege der Landvermesser, die quer durch den Staat und durch Europa zogen, um jeden Kirchturm, jeden Weiher korrekt zu verorten. Napoleons Feldzüge und später die britischen kolonialen Eroberungen wären ohne diese Karten nicht möglich gewesen. Sie versprachen strategisches Glück und verursachten nationales Leid, z.B. als Halford Mackinders geopolitische Karte 1904 erstmals kulturelle Cleavages auf einer Karte verteilte, die Soziologen wohl stark an Huntingtons Theorie vom Kampf der Kulturen erinnern würden. Auf solcher Basis wurde später Pakistan willkürlich von Indien getrennt, ohne sich gründliche geographische und kulturelle Informationen vor Ort anzueignen. Auch in den ehemaligen Kolonien ist die Willkür der Grenzziehung auf Karten sichtbar und immer noch Grund für blutige Auseinandersetzungen.
Information und Desinformation
Sieht man sich dagegen die Welt nach Google an, scheinen alle Konflikte vergessen zu sein. Der blaue Planet prangt auf so mancher Bildschirmoberfläche, überzogen von weißen Wolken und ohne dass nationale Grenzen sichtbar wären. Google hat erreicht, wovon Ptolemäus, Mercator und Blaeu nur träumen konnten: einen Blick auf die Welt von oben. Es scheint keinen Fokus mehr zu geben, auf Google Maps sind alle Informationen abrufbar. Doch Jerry Brotton hat nachgeprüft: Während es zu den USA und Europa ausreichend Satelliteninformationen gibt, werden Länder, die weniger Internetnutzer haben, klar benachteiligt. Unterschlägt Google Informationen nach Kundenprioritäten? Seit Google Streetview gibt es außerdem eine anhaltende Diskussion über die Grenzen des Blicks und Privatsphäre. Auch Monopolfragen stellen sich, wenn Google einen eigenen Satelliten in den Weltraum schießen kann und der US – Geheimdienst Zugriff auf Informationsdateien erhält. Wie informiert ist die Welt und wo sollten Grenzen sein? Ist der allumfassende Blick nicht der am wenigsten interessierte? Brotton liefert ein kritisches Bild zu der Firma, die unser Weltbild derzeit am stärksten prägt. Allein dieses Kapitel macht ›Die Geschichte der Welt in zwölf Karten‹ lesenswert.
Titelangaben:
Jerry Brotton: Die Geschichte der Welt in zwölf Karten
Aus dem Englischen von Michael Müller.
München: Bertelsmann Verlag 2014
720 Seiten, 39,99 EUR
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